Am U-Bahnhof Pankstraße. Von der Kreuzung Prinzenallee / Badstraße kommend, stieg man die Treppen hinunter. Der Kiosk auf der Mittelebene verkaufte Biere und Zeitungen an die aus dem Norden und Süden anreisenden Pendler, die sich, bevor sie auf die neonlichternde Prinzenallee hinaufstiegen, noch einmal mit den nötigsten Sachen eindeckten. Hin und wieder ließen sich auf der Mittelebene die Dealer beobachten.
Hinter den Verkleidungen der Rolltreppe fanden sich mal dicke Geldbündel, mal durchsichtige Tüten mit kleinen Pillen und kleinen Briefchen. So wie der Kioskbetreiber seine Zeitungen und Biere verkaufte, so hatten sich die Dealer in den letzten Monaten wieder im oberen Teil der U8 ausgebreitet. Die zahlreichen Zugriffe im südlichen Teil der Linie hatten zu einem Aufblühen der Geschäfte rund um die Bahnhöfe Franz-Neumann-Platz, Osloer Straße und Pankstraße geführt.
Solange sie ihren Geschäften nachgingen, waren die Dealer konzentriert, beobachteten die unmittelbare Umgebung mit genauen Blicken, mischten sich, sobald es nach Gefahr roch, unter die auf dem Bahnsteig auf der untersten Ebene verharrenden Trinker, die unter den Rauchverbot-Schildern trinkend und rauchend ihren Tag vertrieben. Sobald es wärmer würde, würde man sie wieder auf den Straßen des Weddings finden. Doch jetzt standen sie rauchend und trinkend auf dem Bahnsteig der U8, pfiffen den jungen Mädchen nach und bewegten sich nur selten, und wenn nur, um sich auf der Verteilerebene mit neuen Bieren zu versorgen.
Manchmal öffnete sich hinter den Trinkern eine Tür, aus der eine mit Warnwesten behangene Gruppe Touristen trat. Sie unterhielten sich in fremden Sprachen und stürmten, sobald die U-Bahn aus Wittenau kommend einfuhr, in die vorderste Tür der einfahrenden U-Bahn. Sie kamen aus den Berliner Unterwelten der Vergangenheit, nur um in die Unterwelten des Jahres 2013 einzutreten. Ihre wohlige Gänsehaut wich einem Unbehagen. Man hatte ihnen die düstere Vergangenheit versprochen und gerade jetzt – um den 80. Jahrestag der Machtergreifung herum – wollten sie sich in der pulsierenden Hauptstadt die Schrecken der Vergangenheit vor Augen führen, um in ihren fernen Heimatländern über die Bunkeranlagen des Dritten Reichs zu referieren. In ihren Augen spiegelte sich jedoch das Entsetzen über die Zustände im Berliner Norden im Jahre 2013. Armut, Trunksucht, Gebrechen und auf der mittleren Verteilerebene Drogenkriminalität.
Diese Welt war mein Zuhause und beobachtete ich nicht gerade das Entsetzen der Touristen, so fühlte ich mich hier im Untergeschoss des Berliner Turbokapitalismus wohler als an den touristisch erschlossenen Orten im Berliner Süden. Die letzten Tage hatte ich vornehmlich auf dem Bahnsteig der U8 sitzend verbracht. Zwar hatte die Bundesliga wieder Fahrt aufgenommen, doch war es mir, wenn es manchmal auch anders rüberkam, ein Greul Tag ein Tag aus über die anstehenden Transfers, die verzweifelten Versuche der sich in Abstiegsnöten befindenden Vereine und auch über die sich stets wiederholende Problematik der steigenden Ticketpreise zu lesen. War ich jedoch in meiner Wohnung hoch über der Wollankstraße, verbrachte ich die meiste Zeit damit, genau darüber zu lesen. Es verhagelte mir regelrecht die Laune.
Hin und wieder öffnete ich das Fenster und blickte auf die Tore des St.Elisabeth-Friedhofs. Nachdem sie wieder einen rüber gebracht hatten, traten die schwarzgekleideten Trauergesellschaften durch das Tor und waren nach wenigen Minuten in der Friedhofskneipe verschwunden. Manchmal gelang es mir, die Anlage zur richtigen Zeit aufzudrehen, dann beschallte ich die Gesellschaften mit „Long Time Ago“ von Midnight Choir. Setzte der Chor ein, setzte die Stimme über die schwebende Orgel ein, sang Pal Flaata „it just don’t hurt no more. every tear is gone. But i still fell within. When something is wrong. The rage won’t pound like nails to my soul. I’ve moved away from that a long time ago”, fror die Szene auf der Wollankstraße ein. Für einen kurzen Moment stand die Welt still und der Schmerz trat offen zutage.
Johnny Depp am Ende von Dead Man, wie er aufs Wasser treibt, wie sich das Leben verliert, wie die Kamera am Ufer verharrt und der Körper langsam aufs offene Wasser treibt , der Chor, der jetzt klarer wird, der während der Körper auf seiner letzten Reise langsam aus dem Blickfeld verschwindet. „I’ve moved away from that a long time ago.“ Der Chor, die Streicher, die Stille des stoppenden Verkehrs, die Blicke der Trauergesellschaft, die auf einmal eine unbekannte Gewissheit in sich tragen, die etwas gesehen haben, was sie niemals hatten sehen wollen, was aber unser aller Schicksal ist. Die letzte Reise auf dem Fluß des Lebens.
Wir werden eines Tages aufwachen und an einem anderen Ort sein, wir werden eines Tages aufwachen und wir werden nicht mehr über die anstehenden Spiele der Borussia reden wollen. Wir werden an einem Ort sein, an dem wir unsere Erinnerung haben werden, an dem sich unsere Zukunft aber aus anderen, aus weit weniger konkreten Dingen speisen wird. Wir werden vorher loslassen und den Weg beschreiten. Und während wir diese Weg beschreiten, wird von irgendwoher jemand ein Fenster aufreißen, und die, die wir zurückgelassen haben, mit den süßlichen Chorälen des Abschieds beschallen, dachte ich das unwirkliche Szenario auf der Wollankstraße beobachtend.
Ich würde im Neonlicht des Winters oder an einem viel zu heißen Sommertag gehen, ich werde da sein im ersten Licht des letzten warmen Tages eines Jahres und ich werde da sein an einem grauen Februarmorgen.
Es war Sonntag geworden im Soldiner Kiez und es war Zeit, dass sich die Frühlingssonne in mein Leben schob. Am Abend würde die Borussia in Leverkusen spielen. Ich rief den Punktelieferanten an, sprach mit leiser Stimme und bat ihn um das Übliche.