Als ich am späten Samstag endlich wieder daheim war, sang Aaron Benolkin gerade „I wish that I could disappear, but I can’t run from you. Have patience when it reappears what else is there to do“. Es war Freitag einfach alles zu schnell gegangen. Gerade noch war ich mit Benolkin noch einmal unseren Plan für die nächsten Monate durchgegangen. Benolkin war Sänger einer Band aus Anchorage, Alaska. Dem Land der endlosen Winter und der Aussteiger-Dokus. Ich hatte ihn über Teenage Kicks PR kennengelernt, und seine Texte hatten mich abgeholt, wie man in der Musikindustrie so sagt.
„Dembowski! Have faith! You can do it“, hatte Benolkin mir geschrieben. Ich aber wußte nicht, ob ich es wirklich tun konnte. Er wollte mich auf seiner nächsten Tour als Gastsänger auf der Bühne haben, ich sollte Daylight singen. Der Song, schrieb er mir via Skype und der Punktelieferant hatte ihn dabei unterstützt, sei doch wie für mich geschrieben. Er habe ihn, schrieb er mir, für mich geschrieben, ohne dass wir uns bis dahin gekannt hätten. „I’ll try not to hurt you, it would tear my heart in two. Gotta keep myself together, the daylighs coming soon.”
Erst einmal konnte ich von diesem Freitag kein Tageslicht mehr erwarten. Es war genau 14.08 Uhr als die Bombe einschlug. Benolkin schrieb „some four minutes, have faith!“. Wenn sich das Leben verändert, wenn große Dinge passieren, beginnen sie meist mit einer kleinen Nachricht, ganz unscheinbar, dann blinkt es im Posteingang und jemand informiert dich von irgendwo über irgendwas.
„Pressekonferenz, 18 Uhr“, mehr war in der von BVB-Pressesprecher Fligge unterzeichneten Nachricht nicht zu lesen. Aber nicht in Spanien, sondern in Dortmund. Somit war klar, dass es sich nicht um eine Vertragsverlängerung halten würde, auch ein Sponsorentermin würde der Verein nicht so kurzfristig bekanntgeben. Der erste Wechsel der Transferperiode. Der erste neue Spieler, und aufgrund der Kurzfristigkeit würde es auch nicht irgendein Spieler sein.
„Gotta go. Some work to do“, schrieb ich Benolkin, schmiss ihn aus der Leitung, schrieb dem Punktelieferanten noch schnell „er kommt zurück“, rannte zum Kühlschrank, nahm mir ein Bier, rief bei der Lokalzeitung an, doch die Redakteurin war im Urlaub und wusste natürlich von nichts. „Dembowski, Du störst mich gerade bei einem Spaziergang durch den Rombergpark. Es ist Winter, ich habe Urlaub, die Mannschaft ist in Spanien. Was also willst Du?“ „PK um 18 Uhr. Stadion. Sahin“ Sie stöhnte auf. „Hör auf. Das wüßte ich. Schönen Tag noch.“
Ich hatte es nur gutgemeint, ich hatte nur meine Informationen teilen wollen. Aber wie Lokalzeitungen so waren, Urlaub ist Urlaub und auf Rombergpark folgt ein Spaziergang rund um den Phönixsee. Gott sei Dank nicht in Dortmund, dachte ich. Und ging noch einmal meine Mails der vergangenen Tage durch. Fazeli hatte zu meinen Fragen geschwiegen, aber ich erinnerte mich an Frank. Vor dem Ultrakiosk stehend hatte er angedeutet, dass er was drehen könnte. Als Willkommensgeschenk quasi. Natürlich hatte ich „dann hol ihn heim“ geantwortet. Das aber vergessen, wie man eben Sachen vergisst, die man so sagt, wenn einem wirklich nichts mehr einfällt und man seine Ruhe haben will und so in der Tat Worte formuliert, nur damit etwas aus dem Mund gelangt.
Nuri hatte ich vor ein paar Tagen ebenfalls eine Rückkehr nahegelegt. „Come home“, hatte ich geschrieben, und ich wußte, wenn der Ermittler ruft, kommen sie alle. In diesem Fall aber zurück. Als die Sache mir aber aus der Hand gelaufen war und sogar Reiser sich bei mir meldete und „Exklusiv! Exklusiv!“ brüllte, hatte ich die Sache abgeschrieben. Bis die Nachricht kam, um 14.08 Uhr am Freitag. Dann war es klar. Er würde zurückkommen.
Den Wirbel werde ich mir nicht antun, erst einmal raus, vor die Tür, ein paar Bier nehmen. Ich war erstaunlich ruhig für die Tragweite dieser Nachricht. Die Rückkehr des Weltfußballers. Ich erinnerte mich an einen Abend in der Kneipe, an den Typen, der die Geschäftsführung verklagen wollte. An seine Worte „Wenn Sahin Weltfußballer wird, verklag ich die Geschäftsführung!“ Was wohl aus ihm geworden war? Und ob er damals eine Karte für das Frankfurt-Spiel bekommen hatte. Ach, der Frühling 2011. Damals war mein Leben noch ein anderes. Jetzt war ich gereift, hatte mich entwickelt und ja wirklich auch meine Ruhe gefunden.
Ich überlegte noch einmal, wie unwohl ich mich in der Nordstadt gefühlt hatte, wie ich immer gewußt hatte, dass mein Weg mich irgendwann wieder in Richtung Osten ziehen würde, wie ich schon bei meiner Ankunft in Dortmund meinen Traum aufgeben musste. Es war immer mein Traum gewesen, in Dortmund zu leben und als ich dort lebte, war mir klar, dass dieser Platz, dieser Ort, diese Stadt für mich auf lange Sicht nichts anderes als Stillstand, Zerfall und Tod bedeutete. Dieser Platz bedeutet Tod, hatte ich mir gesagt und aber auch keine Erklärung gehabt, warum das so war.
Ich erinnerte mich an die Tage in der Erdgeschosswohnung, wie ich mich zwar noch gegen Veränderungen wehrte, mir mein Scheitern nicht eingestehen wollte, und ich doch immer unglücklicher wurde. Ich erinnerte mich an meine verzweifelte Suche nach Liebe, nach Ruhe, nach Gelassenheit, die mich fortwährend in die Kneipe und somit in Richtung Alkohol und Zerfall und Tod führte.
Ich saß im Oldie-Eck. Mein Mund bewegte sich mechanisch. Bald erzählte ich nicht mehr von der Erdgeschosswohnung, sondern von meinen Plänen mit Benolkin. Ich versuchte Sahin auszublenden, ich wollte es nicht wahrhaben, dass er wirklich zurückkam, dass er diesen Schritt wirklich wagen würde.
Was, dachte ich an der Theke sitzend, löst eigentlich das Gefühl Heimat aus? Über die Anlage croonte sich die alte Knef durch „Eins und Eins“. „Der Mensch an sich ist einsam und bleibt verlassen zurück“. Eben nicht, rief ich aus, sprang auf und nahm das Vibrieren meines Telefon war.
Nuri meint: Der Ermittler war es! Gruß, Tine
Die Lokalredakteurin! Sie hatte es doch noch geschafft. Und Nuri hatte es gesagt. „Ich war es, ich war es! Lokalrunde jetzt! Mach auffen Deckel!“ Zum Glück war wenig los. Ich nahm gleich vier doppelte Lokalrunden. „Erst kommt der erste Kuss, dann kommt der letzte Kuss, dann der Schluss“ Wir waren wieder beim ersten Kuss.
Im Kopf schrieb ich ein paar Kommentare. DerSamstag! hatte wieder zugeschlagen. DerSamstag! rockte das Haus. DerSamstag! war der Shit, dachte ich und bat um Marion Maerz. Die Knef wollte zu viel, die Knef wußte zu viel. Die Maerz blieb im Bett, zumindest auf ihrem Burt Bacharach-Album. „Wenn ich die Regentropfen sehe, drehe ich mich einfach um.“ So sieht es doch aus. Und wenn ich nach Hause will, gehe ich nach Hause.
Scheiß auf nen Kommentar, der konnte warten. Dortmund nur noch irre, nur der Ermittler behielt die Ruhe. So und nicht anders ist es doch, dachte ich an der Theke sitzend. Noch ein Gedeck, draußen tanzten die ersten Schneeflocken des Jahres, schlugen an die Scheiben des Oldie-Ecks. Irgendwann ging ich. Als ich aufwachte, war es Samstag, und schon wieder dunkel. Ich lag auf einer Bank am Bahnhof, in Anklam. Auf meiner Hand stand in fremder Schrift „Agathe“ geschrieben. In meiner Jackentasche fand ich einen Zettel.
Punktelieferant. Band. Masernvirenfressenkrebszellen! Erstes Album: Von Haus ein Bein! Auf Tour?
Und einen anderen Zettel:
Wenn Du Tupac siehst, folge ihm nicht. Wenn Du Tupac siehst, renne weg. Er kommt nach Haus, er kommt nach Haus. Nuri kommt nach Haus! Er ist zurück. Wenn Du Tupac siehst, renne weg.
Irgendwann fuhr ein Zug in Richtung Berlin ein. Ich fuhr nach Haus. Nuri war schon daheim. Aber wer zum Teufel war Agathe?