Als ich aufwachte, war es draußen noch dunkel. Ich konnte mich nicht erinnern, in den letzten Monaten jemals so früh aufgestanden zu sein. Es ging gleich los. Die Schwester stürmte das Zimmer, brüllte ihr „Guten Morgen“ und erkundigte sich nach dem Wohlergehen des Ermittlers. Sie drückte mir ein paar Pillen in die Hand. Die, sagte sie, würden mich in die Nähe einer Normalität bringen. Was auch immer diese Normalität war, ich wollte um 6 Uhr in der Früh keinen Gedanken daran verschwenden. Normal war mein Aufenthalt hier sicher.
Bruchstückhaft fügte sich der Freitag wieder zusammen. Ich war aus der Kneipe raus, hatte die Tür aufgestoßen, mich noch für einen Moment zur einer Gruppe gestellt, dann war ich den Weg zum Kottbusser Tor gegangen. Dort hatte ich mich hingesetzt, auf die Bahn gewartet. Dort war es einigermaßen still gewesen, die Tore hatten den dort Wartenden nichts bedeutet, sie trieben ihre Abendplanung voran, standen dort mit ihren Bierflaschen und ihren Szenegetränken, trugen ihre Hipstersonnenbrillen und ihre, so dachten sie, makellose Jugend zur Schau. Ein fliegender Feuerzeugverkäufer hatte sie mit Feuerzeugen versorgt. Immer mehr Menschen waren die Treppen runter gespült worden. Immer mehr Menschen, die sich nicht für das 4-4 interessierten. Immer mehr Sprachen waren um mich herum zu hören gewesen. Immer mehr. Immer mehr. Ich hatte mich auf einer Bank niedergelassen, als sich eine Gruppe neben mich gesetzt hatte.
„Where are you headed my friend?“, hatten sie mich gefragt und ich „for the title“ geantwortet. Danach aber und auch alles vor dem Verlassen der Kneipe war bislang nicht zurückgekommen. Was war passiert? Ich kannte das Ergebnis und das Spiel hätte ja durchaus tausend Verläufe nehmen können, um am Ende 4-4 zu stehen. Hatten wir leichtfertig eine 4-0 Führung verschenkt? Ich konnte es mir nicht vorstellen, aber etwas war passiert und jetzt war ich hier. Einen Moment hatte ich mich gehen lassen und jetzt hatten sie mir Ruhe verordnet.
Doch aus der Ruhe wurde nichts. Ein straffes Programm erwartete mich an diesem Tag. Und wenn ich auch meinen Anwalt sprechen wollte, so erklärten sie mir, dass es nur um meine Gesundheit ginge und ich ja jederzeit, nur eben nicht jetzt, wieder gehen könnte. Im Speisesaal erwartete mich bereits Sybille. „Dietfried, wie geht es Dir heute morgen?“ Sybille war 40, erzählte von ihrer Vergangenheit, ohne, dass ich zur Wort kam. Sie erwähnte Namen über Namen. Tat so, als ob ich all diese Personen kennen würde. Ich kannte niemanden und Sybille redete. Die Menschen hatten es schwer, sie es zu Nahe an sich ran kommen lassen. Ich bekam nicht einmal das trockene Brot runter.
In der Raucherecke bot man mir Kippen an. „Jetzt bist Du lange genug hier, kauf Dir sofort eigene. Das hier ist die letzte Kippe.“ Ich zog ein paar Mal, schnippte die Kippe dann auf die Erde. „Aber Herr Dembowski, dafür stehen hier doch die Aschenbecher.“ Eine der Schwestern hatte sich unter uns gemischt, erklärte mir jetzt die Regeln der Anstalt. Kein Alkohol, Nikotin nur wenn nicht anders möglich, Kommunikation nach außen auf ein Telefonat pro Tag beschränkt, der Plan liegt auf dem Nierentisch.
Der Plan sagte vor allen Dingen erst einmal Ergotherapie, danach dann irgendwann Aufnahmegespräch bei der Drauschke. Man traute mir nun also immerhin ein Mindestmaß an Kommunikation zu. Ein Anfang im Ende des Ermittlers. Die Meisterschaft konnte ich mir abschminken, wenn nicht irgendwas passierte. Aber was? Ich konnte nicht einmal von meinem Schicksal beríchten. Ich hatte nur die Nummer von Redermann, der würde sich aber nur ins Fäustchen lachen. Und wie war ich hier hergekommen? Wer hatte mich eingeliefert? Und wieso?
Wir saßen jetzt an Tischen und sollten mit Ton arbeiten. Wieder hatten sie mich an einen Tisch mit einer weiteren Person gesetzt. Bastian, Anfang 20, Netzpirat. So stellte er sich mir vor. Feiner Kerl, dachte ich, kauft bestimmt im Bioladen und macht Revolution. Wir machen zu wenig Revolution, wenn wir gefangen sind und wir schweigen zu viel, wenn wir Angst haben. Der hier machte bestimmt seinen Mund auf, dachte ich und formte auf dem Ton meinen dritten Aschenbecher. Er zerbrach. Erneut.
Bastian hingegen arbeitete konzentriert, ruhig, gelassen. Er musste wohl schon länger hier sein. „Fast war ich im Abgeordnetenhaus, jetzt bin ich im Irrenhaus!“, sprach er mehr zu sich als zu mir. „Was machst Du hier?“ „Ich bin der Ermittler?“, fragte ich. „Natürlich bist Du das! Was sonst? Wir sind alle Menschen. Wir kämpfen für unsere Rechte.“ Ein weiterer Aschenbecher zerbrach, Bastian war immer noch bei seiner ersten Figur, seinem ersten Tablett? „Was soll das sein?“ „Hier drin gibt es keine iPads. Bastel ich mir eins. Du musst die Zeit als Einheit begreifen!“ Ich schwieg. Ein Aschenbecher zerbrach. Niemand erklärte mir, wie das überhaupt funktioniert.
Als der Typ anfing „wir sind die Netzpiraten und ziehen mit dem iPad ins Netz!“ zu singen und ich „doch für uns gibt’s kein Klagen, ewig kanns nicht Winter sein“ ergänzte, drehte er erst durch („Das heißt: “ewig kanns nicht offline sein!“), schmiss dann wild mit Ton um sich und brachte damit die komplette Stunde zu einem angemessenen Ende. Das Aufnahmegespräch war die Hölle. Es fiel mir schwer, die richtigen Worte für diese Schmach zu finden und schwieg.