Wie viel Winter der Mensch verträgt, merkte man an diesen ersten warmen Tagen des Jahres. Nicht viel! Auf einmal füllten sich die Straßen, der Obsthändler war jetzt hauptberuflich Spargel- und Erdbeerverkäufer und die U-Bahn-Schächte spuckten sommerlich bekleidete Personen hervor. Mich hatte es an den Görlitzer Bahnhof gezogen. Im Schatten des Schwimmbads trank ich literweise Wasser und beobachtete das Treiben auf der Wiener Straße.
Im letzten Jahr war einiges passiert und ich hatte mich gewandelt. Ich ging das zweite Meisterjahr durch, es war für mich persönlich das bessere Jahr. Ich hatte mich gefunden, den Weg verlassen, und war angekommen. In einer anderen Stadt, die ich notgedrungen erreichte und die mir in kurzer Zeit ans Herz gewachsen war. Dass ich seit einiger Zeit somit zwei Herzen in meiner Brust schlagen hörte, machte mir nicht einmal Angst ,es beruhigte mich. Ich hatte mich von Dortmund losgesagt, nur um den Ballspielverein aus der Ferne mit aller Macht zu lieben. In einer Stadt, die mit zwei mittelmäßigen Fußballvereinen gestraft war, musste ich diese Liebe verteidigen. Und das gelang mir wahrlich nicht schlecht. Die Zugezogenen aus dem Süden der Republik, die Landflüchtigen aus Brandenburg, die Nordlichter, sie alle waren vereint in tiefster Abneigung. Ihre Bewunderung war längst in Neid und Ehrfurcht umgeschlagen.
Woche für Woche hatten sie die Haare in der Suppe gesucht und sich aus den Wimpern Perücken gebastelt. Sie waren in ihrer Abneigung entsetzlich, doch hier in der Kreuzberger Borussen Enklave war die Welt in Ordnung. Ein Rückzugsort, ein Heimat fernab der Heimat. Wenn ich also auch auf den Straßen stets argumentieren musste, was manchmal ermüdend war, so konnte ich hier meiner Bewunderung und Leidenschaft freien Lauf lassen. Das hatte zwar nach dem Stuttgart-Spiel zum Zusammenbruch geführt, war aber in der Summe die größte Errungenschaft meiner nunmehr halbjährigen Existenz hier in der Hauptstadt.
In all der Zeit hatten ein paar windige Gestalten mich dazu überreden wollen, jetzt doch endlich mal Fallschirmspringen zu gehen. „Dembowski!“, hatten sie gesagt und mich vorwurfsvoll angeschaut „dein Leben ist verwirrend langweilig. Du gehst nicht einmal Fallschirmspringen. Dabei macht das jeder gute Ermittler einmal in seinem Leben!“ Ich hatte sie nur leer angeschaut und mich gefragt, ob in ihren Köpfen irgendwas außer Wahnsinn existierte. Ich hatte viele Handbücher über Ermittler gelesen. Nicht eines davon aber riet dem Ermittler, jetzt endlich mal mit dem Fallschirm über der Stadt zu schweben. Nicht eines davon!
„Und dann die Frauengeschichten“, waren sie fortgefahren „wieso vergisst Du diese Dörte nicht und wieso akzeptierst Du nicht, dass Sybille aus der Anstalt ist. Such Dir eine Frau und wenn nicht dann gehe wenigstens mal in den Puff. Ein echter Ermittler hat Sex!“ Da hatte ich dann die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Auch das mit dem Sex stand nicht in den Handbüchern, die mein Leben bedeuteten. Gerne hätte ich ihnen für so viel Dreistigkeit die Knochen gebrochen, doch gegen Gewalt und die damit einhergehenden Unannehmlichkeiten sprachen die nächsten Spiele. Es gab immer ein nächstes Spiel. Und das wollte ich sehen. Die Gewaltphantasien, hatte ich mir vorgenommen, würde ich in der Sommerpause ausleben.