Doch als ich mich am folgenden Morgen noch einmal mit der Autobiographie einer Heizung beschäftigte, konnte ich hier zumindest ein paar warme Seiten abgewinnen. Die Ereignislosigkeit im Leben einer Heizung kam der Ereignislosigkeit in meinem Leben erschreckend nahe. Sie wurde geschaffen, von einem Monteur installiert, sie musste Wasser lassen und war manchmal gut und manchmal weniger gut gelaunt. Sie war mal kalt, und sie war mal halt. Und wenn sie nicht mehr der Norm entsprach, war sie Vergangenheit. Heute Norm und bald bereits Vergangenheit. Wie der Winter.
Draußen die Sonne. Zog die Frühlingslederjacke an, verstaute den Mantel ganz hinten im Schrank. Würde ich bis November nicht mehr anziehen. Einmal die Frühlingslederjacke, bitte! Ohne Reiserücktrittversicherung? Gerne! Ich wollte mal wieder in der Samenhandlung vorbeischauen. Wenigstens die Post durchgehen. Wenigstens mal wieder ins Büro. Seit der Sache zum Jahreswechsel hatte ich einen leichten Knacks bekommen. Ich lief die Seestraße hoch, setzte mich an der 100 auf eine Bank, blickte auf die Speicheranlagen. Was tun? Was war in den nächsten Wochen wirklich wichtig?
Erst einmal würde die Borussia nach Berlin kommen. Einfach so. Ohne Zusatzqualifikation. Vielleicht würde sogar Redermann auftauchen. Nach der vergangenen Woche war ich mir da nicht so sicher. Ein unsicherer Kantonist. Amok hatte mir bereits in der vergangenen Woche abgesagt, mir hatte man Freikarten zugesteckt und so saß ich nun auf meinen Tickets rum. 3 Tickets in einem ausverkauften Stadion, die niemand nur für einen Moment in die Hand nehmen würde. Schade. Und überflüssig.
Aber die Samenhandlung war eine Idee. Das Spiel war ausverkauft. Und ich war dabei. Auch wenn es Shinji nicht schaffen würde. Jetzt hat der sich auch noch verletzt, sagte ich mir und zuckte mit den Schultern. Bislang hatte der BVB alle verletzungsbedingten Ausfälle ignorieren können. Egal ob es Super-Mario, Super-Bender oder eben jetzt Super-Shinji traf, sie würden zurückkommen und bis dahin perfekt ersetzt werden. Ich konnte mich an keine Dortmunder Bank erinnern, die derart stark besetzt war. Früher brachte man Tretschok und heute bringt man Perisic. Im Gegensatz zu Perisic aber, hielt ich inne, hatte Tretschok damals gegen Manchester ein wichtiges Tor geschossen, war ohnehin ein sympathischer Typ und würde am Samstag die Borussia auseinandernehmen.
Die Vorzeichen also standen auf Tretschok vs Perisic. Das könnte das Schlüsselduell sein, dachte ich. Doch dann erreichte mich der Anruf aus München. „Dembowski, wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass wir die Saison im Anschluß neu bewerten werden. Es gibt Anhaltspunkte einer großen Verschwörung, in dessen natürlicher Mitte sich ein gewisser Dietfried Dembowski, wohnhaft in Berlin, und also Sie!, befindet.“
Was war passiert? Ich hatte kein Ahnung, immerhin aber eine Idee. Amok hatte da in der letzten Woche was angedeutet. Amok handelte immer noch in meinem Namen und hatte vielleicht etwas zu dick aufgetragen.
„Wasn los?“
„Sie haben Schiedsrichterentscheidungen maßgeblich beeinflußt. Jetzt rennt uns der Uli die Bude ein und Kalle droht mit nem weiteren Gedicht. Wir müssen Maßnahmen ergreifen. Die Sache liegt jetzt beim DFB-Kontrollausschuss. Und verdammt! Die sind sauer auf Borussia. Haben die mit ihren Schmähgesängen für Überstunden gesorgt. Allein die Beantwortung der Mails. Allein die gewissenhaften Formulierungen der Absagen. Und dann die Telefonate mit Hoffenheim, die wirklich auch andere Probleme haben. Dembowski! Ich würde behaupten, Sie haben ein…“
„Stop, mit wem sprech ich überhaupt? Wer sagt, dass ich ein …“
„Problem habe? Das sage ich. Und ich bin Ihre letzte Hoffnung. Da lässt sich bestimmt was drehen. Hab da auch bereits mit dem Mann in Hoffenheim gesprochen. Der bräuchte einen Ermittler. Jemanden, der ihn in der Öffentlichkeit in ein gutes Licht rückt, die Fans gegen sich und nicht den Mann aus Hoffenheim aufbringt. Interesse?“
„Du verdammter Penner! Wer immer Du bist, was willst Du eigentlich sagen? Dass wir die Bayern von der Spitze gestoßen haben?“
„Wer hat denn immerzu von der Wachablösung geredet? Wer hat die Schiedsrichter unter massiven Druck gesetzt?“
Amok schien mit der Nummer nix zu tun haben, ich aber auch nicht. Wo immer der Anrufer meine Nummer hatte, es sah mir alles nach einem geschickten Abwerbeversuch aus Hoffenheim aus. Sie wollten mir drohen, um mich zu gewinnen. Sie wollten mich gewinnen, um anderen zu drohen. Ich musste eine Nerv getroffen haben. Und jetzt war dieser entzündet, vielleicht faulte auch etwas Fleisch dahin. Aus dem Nerv entspringt ein Schmerz.
„Getz hör ma zu. Danke. Für diesen Anruf. Danke. Für dieses Angebot. Danke. Für Deine Offenheit. Danke. Danke. Danke. Für Hoffenheim und Bayern. Danke. Für die Wachablöung!“
„You ain’t no Kalle. Aber ich sehe schon, Du siehst woher der Wind weht. Ich werde mich wieder melden. Und denk dran, Dembowski, Reiser hat Dich im Visier und Komaroff ist kein Gespenst!“
Ich griff in die Schublade. Endlich die Whiskeyflasche. Das Ermittlerwerkzeug. Auf dem Papier skizzierte ich die Dortmunder Aufstellung ohne Shinji. Ich hatte Angst. Vor Tretschok und seinen Tricks. Aber auch eine Niederlage würde nicht das Ende der Welt sein. Und überhaupt, niemand hatte die Absicht ein paar Punkte abzugeben. Ich machte mich noch schnell an die Fragen von schwatzgelb.de und überließ den restlichen Tag meinem Alkoholismus. Scheiß auf Ermittler gegen Alkoholismus. Auf dem Kreuzzug gegen die Welt blieb mir noch genug Zeit für Ernüchterung. Hoffenheim, Bayern, tststs…