Der legendäre verlorene Tag endete mit einer Niederlage der Nationalmannschaft gegen die Auswahl der Franzosen. Der legendäre verlorene Tag hatte mir bereits vorher Sorgen bereitet und spätestens mit der Nachricht vom Tode Davy Jones fand ich mich in meiner Meinung bestätigtet.
Waren Todesnachrichten auch keine Seltenheit im Gewerbe Menschheit, so hatte es in dieser Woche doch zu oft eingeschlagen. Erst hatte Redermann angerufen. In Tränen aufgelöst. Er verkündete das Ableben von Uli Behle, den ich bereits in den 90ern als Rennbahnsprecher schätzen gelernt hatte. Damals hatte ich ein Vermögen mit einem Gaul namens Vaslav Nijinski gemacht. Das Vermögen war nicht von Dauer. Ein BVB-Pferd hatte mich verführt, doch ich sah nur den qualvollen Tod nachdem es ausgangs der Start/Zielgerade gestürzt war. Doch auch diese Schreckensnachricht hatte Behle mit Würde kommentiert.
Danach war er für lange Zeit aus meinem Leben verschwunden, bis Redermann mir die Amateure schmackhaft gemacht hatte. Dort war er wieder. Der lange hagere Mann. Mit einer unvergleichlichen Stimme von ausgesuchter Höflichkeit. „Das Spiel steht heute unter der Leitung des Sportkameraden Brandes. Wir wünschen der Begegnung einen allseits sportlich-fairen Verlauf“, waren die einleitenden Worte zu jeder Partie. Irgendwann war mir wenig Zeit für den Besuch der Amateure geblieben, bei meinem letzten Besuch in der Roten Erde war Behle nicht vor Ort. Während ich dort im Juli über dem Marathontor saß,und mir das Jugendturnier anschaute, hatte ich mich still an Behle erinnert. Vielleicht sogar hatte ich mich verabschiedet. Aus anderen Gründen. Ich hatte gespürt, dass meine Zeit in Dortmund abgelaufen war.
So war es ein paar Monate später dann auch gekommen. Ausgerechnet Redermann, der jetzt am Telefon vom Tode Behles berichtete, hatte mich vertrieben. Doch das war längst Vergangenheit. Der 29. Februar 2012 hatte gerufen, und nur der Tod war gekommen. Jetzt also Davy Jones, dachte ich. „Oh, I could hide ‘neath the wings / Of the bluebird as she sings / The six o’clock alarm would never ring / but six rings and I rise / wipe the sleep out of my eyes / my shavin’ razor’s cold and it stings“, erinnerte mich an die jugendliche Stimme des ehemaligen Kinderstars Jones. Er saß für immer dort am Klavier, hinter ihm der versammelte Rest der Monkees. Jetzt würde sein Traum in Erfüllung gehen. Nie wieder den Wecker hören, aber auch nie wieder in den Tag träumen. Der Tod hatte seine Vorteile, doch die Nachteile wogen definitiv schwerer. Für Uli Behle, für Davy Jones und für die Trauernden.
Nicht mein Tag, dachte ich. Aber die Verstorbenen, musste ich mir eingestehen, waren in meiner Vergangenheit. In meiner Zukunft hätten sie ohnehin nicht stattgefunden. Kurz überlegte ich, warum es mir trotzdem nahe ging. Und auch wenn ich keine Antwort fand, drehte sich zum vierzehnten Mal an diesem Abend der Daydream Believer auf dem Plattenspieler. Ich öffnete meine Fenster, blickte auf den frühlingserwachten Soldiner Kiez und schrie so laut ich konnte: „Lang leben die Monkees! Ich wünsche dem Leben einen allseits sportlich-fairen Verlauf!“.
Danach blätterte ich in alten Spex-Ausgaben. In der Februar 1993-Ausgabe fand ich den Jahrespoll. „Wer muss aufs 1993 aufs Spex-Cover“, war eine der Frage, die es damals zu beantworten galt. Neben der Gewinnerin Kim Gordon (vorzugsweise nackt), fand sich dort neben den üblichen Verdächtigen der frühen 90ern wie Al Bundy (Platz 11), „Titten“ (Platz 9), Vanessa Paradis (Platz 2) auch die gute alte Ernte 23 wieder. Unter weitere Nennungen stand dort genau: „Ernte-23-Packung, bevor sie irgendwann keiner mehr raucht!“ Ich hatte einen Verdacht, der sich auf den Leserbriefseiten erhärtete. Ein Mitarbeiter einer Plattenfirma war damals schon Bewahrer. Es tat gut, an diesem bescheidenen Tag wenigstens einmal zu lachen.