Ihre Furchtlosigkeit erstaunte mich. Das alles seien doch nur Hirngespinste, ich habe mir das ausgedacht, Stück für Stück an den Wahn abgeschenkt und ob ich jemals im Unterwasseraquarium gewesen sei, wäre ohnehin extrem fragwürdig. Wie es dort ausgesehen habe. „Aber was ist mit Piotr? Du kennst ihn auch.“ „Klar. Piotr. Auf einer Skala von 1 bis Unglaubwürdig, ist der eben Unglaubwürdigkeit. Schon immer gewesen.“ Dörte hatte für alles eine Skala ,die sie stets bis ans Ende ausreizte. Die Skalen trieben mich in den Wahnsinn. Doch es war gut, sie an meiner Seite zu wissen. Trotz der Skalen. Trotz ihrer Furchtlosigkeit, die mir ein wenig Sorgen bereitete.

Doch ich musste diese Karte spielen. Mehr besaß ich nicht mehr. Wir waren auf die Straße getreten. Ein Fahrradhändler nahm im Minutentakt Fahrräder in Empfang. Wir überhörten die Gespräche, die sich allesamt um „die Kette muss geölt werden“, „dieser Mantel ist um Längen besser“ und „hey Du, halt mal an, Du hast doch kaum Luft auf den Reifen“ drehten. Rechter Hand hatte ein Kiosk seine Blumenerde auf die Straße gestellt, ein auf- und abwippender Typ mit einem Pudelmischling schritt die Straße ab – als gehörte sie ihm ganz allein. Auf einer Rasenfläche vor einem Umzugsladen saßen Hell’s Angels im Exil auf gepolsterten Möbeln, die sie nie im Leben verkaufen würden. Sie tranken Bier, blickten auf den zähfließenden Verkehr. Über das Hocbhahn-Viadukt an der Schönhauser schoßen die U-Bahnen in Richtung Stadt, auf der Kreuzung ging es drunter und drüber. Rote Ampel, Tram, Halt, Grüne Ampel, LKW-Rauschen, Blaulichter, Unfallaufnahme. Ein Wagen war auf der falschen Seite abgebogen, in den von der Berliner Straße kommenden Verkehr gefahren, in ein Auto geknallt. Bald stand alles still. Nur noch Blaulichter, hupende Autos, über das Hocbhahn-Viadukt rauschende U-Bahnen, die aus Richtung Pankow kommend über die Schönhauser schossen, Flugzeuge, die über Pankow langsam runtergingen. Biertrinker am Morgen, Stau auf den Straßen, U-Bahnen über dem Kopf, landende Flugzeuge – ich war uurück in Berlin, daran bestanden nunmehr keine Zweifel.

Ich nahm Dörte in den Arm, sang „weil es nämlich irreführend und gefährlich ist, wenn etwas U-Bahn heißt, das über unseren Köpfen rattert,schließlich steht das U für Untergrund“. Dörte schaute mich an. „Ich mag es, wenn Du singst. Ich habe das vergessen.“ Der Hund lag neben uns. Genoss es sichtlich. Und inmitten all dieser Unruhe fand auch ich die Klarheit wieder. Bis Dörte mich an die Hand nahm und in Richtung Mittelstreifen zog. Es dauerte einen Moment, bis wir uns den Weg durch den Verkehr geschlagen hatte. Die Autos standen hier dicht an dicht. Ihren Fahnen wehten im Hochsommerwind, der an diesem trüben Tag im Norden Berlins auch ein Herbstwind hätte sein können. „Das wird sich ändern. Freitag. Und jetzt lass uns zaubern. Die haben da jetzt eine Art-Lounge. Habe ich Dir eigentlich schon erzählt, wie mein Lama heißt?“ „Lama?“ „Das auf der Farm!“ „Wie kommst Du jetzt darauf?“ „Lama Gaul, wie findest Du das?“ „Gut. Aber zaubern?“ „Ach komm.“

Natürlich hatte ich es versäumt, reinen Tisch zu machen. Die Berliner Konstrukteure, der Eingang und all das. Nicht erzählt. Mal wieder. Ich nehme mir vor, Sachen zu erzählen und vergesse es dann. Nichts anmerken lassen, dachte ich. Wir traten auf den Grünstreifen, der die Bornholmer durchschnitt. Hier mussten vor über 20 Jahren die Grenzstreifen auf ihrem Weg zum Grenzübergang Böse Brücke gelaufen sein. An der Bösen Brücken hatten sie einen Discounter errichtet, die Geschichte mit einem Schlag ausgelöscht. Doch hier an der Bornholmer erweckte die Stadt den Anschein, dass sie sich nie verändert hatte. Jetzt nur noch an dem Trafo-Häuschen vorbei. Direkt neben uns raste die M13 in Richtung Virchow-Klinkium. Wir pressten uns an die mit Tags überzogene Wand des Trafo-Häuschens, den Grünstreifen konnte man an dieser Stelle auch getrost Kackstreifen nennen. Aber trotz dieser Hindernisse erreichten wir nach gut zehn Minuten Straßenüberquerung den Zauberer. Mein Herz pochte, doch ich ließ mir nichts anmerken.

Die Tische waren trotz des immer noch sehr jungen Tages gut besetzt, immerhin regnete es nicht. Scheinbar Anlaß genug, vor der Tür in den Tag zu starten. Dörte bestellte uns zwei Kaffee, ich saß draußen, blickte auf die Tür, versuchte den Zauberer auszumachen. „Der Zauberer ist der dritte Zauberer jetzt“, erklärte mir Dörte. Sie hatte sich mit dem Zyprioten unterhalten. „Der erste Zauberer ist jetzt Polizist, und der zweite Zauberer ist jetzt Besucher. Die machen das wie Doctor Who!“ Immerhin, dachte ich, wie Doctor Who. Wer immer das war. So machten sie das. Und wenn es der dritte Zauberer war, so bestand die vage Möglichkeit, dass er mich nicht erkennen würde. Das machte mir Hoffnung. Der Kaffee kam, der Zauberer kam, blickte mich nur beiläufig an, ging wieder rein, nahm die nächsten Bestellungen auf. Sappalot! Verdammtes Glück. Wieder einmal. Wir tranken Kaffee, schwiegen, wie wir die meiste Zeit geschwiegen hatten, schauten der Dogge beim Liegen zu und blickten weiter auf die Bornholmer.

„Der schönste Biergarten der Stadt. Entschuldigt, mein Name ist Jem, so nennen mich zumindest meine Freunde. Davon habe ich viele. Und die nennen mich Jem. Ihr könnt mich auch so nennen. Ich mag Fotokameras, Indie-Musik und Borussia Dortmund. Es macht Euch sicher nichts aus, wenn ich mich einen Moment zu Euch setze.“ Ein Mitzwanziger war an uns herangetreten. Er trug ein verwaschenes Tocotronic-Shirt, dort stand unter den drei Gesichtern der Tocotronic-Frühphase „Michael Ende, Du hast mein Leben zerstört!“. Doch die Erwähnung Borussia Dortmunds machte mich stutzig. Berlin war nicht gerade ein Pflaster für BVB-Fans, dieser als Spätkauf getarnte Biergarten, der letztendlich doch nur der Eingang zur Berliner Konstrukteurszentrale war, schon überhaupt nicht. Was blieb uns übrig, was blieb mir übrig, Dörte wußte ja nichts. „Klar, setz Dich hin. Das hier ist Dörte, ich bin Dembowski!“ „Ha, habe ich es doch gewußt. Du treibst Dich im Oldie-Eck rum. Habe ich gehört. Und noch ganz andere Dinge!“ „Was hast Du gewußt!“ Jem. Jem. Jem. Nichts dämmerte.

Jem erzählte jetzt erstmal von seinem Studium (Kunstgeschichte, langweilig! Aber muss ja. Und überhautp die Frauen und die Partys, und der Mord in der Luxemburger), von seinen Konzertbesuchen (und ich kenne da jemanden, der hat mich mal auf die Gästeliste geschrieben), seinen Ausflügen durch die Stadt (die hat so viel zu bieten, ich zeig Euch gerne mal meine Bilder), der Gentrifizierung (deswegen wohne ich im Wedding, aber auch das ändert sich. Neukölln, Kreuzkölln. Wie nennen sie den Wedding? Pankequartier), doch ganz langsam, während wir angesichts der Schwere seiner Gedanken bereits weggenickt waren, kam er auf einen anderen Punkt zu sprechen. „Komarroff will Dich treffen. Im Oldie-Eck. Es ist dringend. 22 Uhr. Mehr kann ich Dir nicht sagen. Aber sei vorsichtig. Die Schraudershaus, sagt Komaroff, sucht Dich.“

Dörte starrte mich an. Ich starrte diesen Jem an. Sie hatten mich gefunden. EM-Ruhetag #2, es gab keine plausible Ausrede mehr. Ich würde Komaroff treffen müssen.