“Die Demo! Platz da!” Murat stürmte aus seinem Laden. Für Dembo und Schill war auf dem Bürgersteig kein Platz mehr. Sie trollten sich auf die Straße. Die Armee marschierte von der Prinzenallee kommend die Badstraße in Richtung Gesundbrunnen hoch. Dahinter die wehenden Fahnen der Revolution.
In den letzten Wochen hatte sich das Blatt für die beiden Freunde gewendet.
Der HSV marschierte unaufhaltsam in Richtung Klassenerhalt. Ja, Bruno Labbadia, die letzte Patrone im Lauf der Dinosaurier, wirkte Wunder! Schill hatte es erwartet. Seit Tagen trug er bereits eine Bademantel-Sonderausfertigung. „Hamburg, und Hamburg only“ stand in großen Lettern über der Raute. Manchmal sah man ihn lächelnd und rauchend vor der Tür seiner Kneipe stehen. Ein seltenes Bild.
Seit der Ankündigung des Klopp-Abschieds waren auch in Dortmund wieder andere Zeiten angebrochen. Natürlich, spielerisch bekamen sie manchmal immer noch wenig auf die Kette. Die Ergebnisse aber sprachen für den BVB. Beim Pokalspiel in München geschahen sogar Wunder. Nach hoffnungslosen 70 Minuten überschlugen sich die Ereignisse. Mkhitaryan drehte das Spiel, Peter Gagelmann erwies sich als überraschend wohlgesonnen für Klopp’s berühmtes letztes Vorhaben, und die Bayern-Profis als ungewohnt humorvoll beim anschließenden Elfmeterschießen.
Wie wir sehen, ging es nach einer langen Phase des Schmerzes für unsere beiden Helden endlich wieder aufwärts. Ihre Vereine zogen sich langsam, und durchaus überraschend, aus dem tiefen Sumpf der sportlichen Bedeutungslosigkeit. Rechtzeitig vor den entscheidenden Spielen. Rechtzeitig vor dem noch vor wenigen Wochen so gefürchteten Monat Mai.
Abseits des Platzes ging es ebenfalls aufwärts. Sie konnten nicht klagen. Nicht Schill, dessen Kneipe in den vergangenen Wochen einen unerwarteten Boom erfahren hatte, und auch nicht Dembowski, der mit Ridley Ferundula endlich wieder einen vertrauenswürdigen Geschäftspartner an seiner Seite wusste.
Gemeinsam bereiteten der Agent und der Ermittler die anstehende Transferphase vor. Sie würden Deals stemmen, von deren bevorstehenden Finalisierung niemand nur im Entferntesten etwas ahnen konnte. Sie waren die Taktgeber des internationalen Fußballbusiness.
Sie verschleierten Fährten, saßen in lichtdurchfluteten Geschäftsräumen, und genehmigten sich in der Abendsonne auf dem Holzsteg am Plötzensee einige Drinks. Mit dem Einbruch der Dunkelheit verschlug es sie in Soldiner Eck, wo sich Justin Hagenberg-Scholz weiter an der Vermessung des Fußballs versuchte.
Auch er, der nerdige Außenseiter in dieser hart trinkenden Welt machte allen Widerständen zum Trotz Fortschritte. Ferundula und Dembowski hatten ihn sogar einige Male um Rat gefragt. Was bei Kampl schief gelaufen sei, wollte der Ermittler wissen, der Agent schmiss ein paar Namen von osteuropäischen Talenten in den Raum.
Ein kurzer Klick, noch einmal die Filter markieren, das war es. Dann referierte er über den slowenischen Auswahlspieler Jan Mlakar, und erklärte die Schwächen des Georgiers Giorgi Arabidze, den er sich trotz alledem in einer der Bundesliga-Kaderschmieden vorstellen konnte.
War am Ende vielleicht doch nicht alles vergebens? Hagenberg-Scholz genoss die milde Frühlingsstimmung. Sie machte das Leben erträglicher.
Manchmal saßen sie in sich stets verändernder Konstellation im Campo Dembowski. Bei günstigem Wind vernahmen sie den Torjubel auf der Bezirkssportanlage, einem der letzten Außenposten dieser Fußballwelt.
Jetzt standen Dembowski und Schill auf der Badstraße. Gerade noch hatte ein heftiger Regenschauer die Luft gereinigt. Jetzt drückte sie Murat auf die Straße, und dort sahen sie erst die Armee der Polizisten und dahinter die Fahnen der Revolution.
„Lass uns abhauen! Murat ist irre“, sagte Dembowski.
Der Dönerverkäufer fuchtelte wild mit seinem Messer in der Luft, schrie die Parolen der Revolution. Einige Polizisten in Kampfmontur drückten sich knapp an seiner Machete vorbei. Die Beats der Walpurgisnachtdemo hallten an den grauen Mauern der Westplatte wider.
Sie folgten dem schwarzen Zug die Badstraße hoch, immer weiter in Richtung Gesundbrunnen. Am Eurogida-Laden erblickten sie Hagenberg-Scholz. Er hielt eine Flasche Uludag in der Hand. „Gegen die Gentrifizierung. Gegen Rassismus!“ schrie er, doch sie sahen ihn nur und hörten ihn nicht. Ein Lautsprecherwagen verbreitete Tipps gegen Polizeigewalt, ein weiterer wetterte gegen das Schweinesystem.
Als sie die Brücke erreichten, drückten sich Dembowski und Schill an das neue Bahnhofsgebäude am Gesundbrunnen. Sie standen nun zwischen angespannten Hundertschaften, die den Demonstrationszug beobachteten. Das Ende des revolutionären Aufmarschs war nun absehbar. Am Ende des Zuges trug man Designersonnenbrillen und Adidas-Sneaker zu schwarzen Hoodies.
„Bullenschweine!“
„Armselige Penner!“
„Fuck the Police! Fuck the Cops!“
„Lass uns abhauen. Die sind irre“, sagte Dembowski.
Auf dem Rückweg gabelten sie Hagenberg-Scholz auf, der immer noch vorm Eurogida-Laden rumlungerte. Er war, das sagte er, geflasht von dieser revolutionären Wucht. Man sah es ihm auch an.
„Zeit, dass sich was ändert!“
„Zeit, dass sich was dreht!“
Zeit fürs Soldiner Eck.
Hotel California.
You can check out anytime you like, but you can never leave.
Wie oft hatten sie es schon gesungen, und wie oft hatte jemand “so ist es“ gerufen?
Am Wochenende gelang Hamburg der nächste Sieg, der BVB mühte sich zu einem Punkt in Hoffenheim. Bayern verlor. Alles normalisierte sich, so schien es.
Die Lokführer kündigten einen Streik an. Die NSA-Affäre breitetet sich aus, nur um schon bald wieder zu verschwinden. Die ARD berichtetet von den Machenschaften der FIFA. Niemand war mehr überrascht. Nicht von der GdL, nicht von der NSA, nicht von Merkel, nicht von der FIFA.
Das Land war gelähmt. Fußball war die Flucht. Das Unwohlsein, das Dembowski schon seit Beginn dieser Spielzeit spürte, verstärkte sich nur.
„Ich kann es nicht identifizieren“, erklärte er Schill. „Es ist da. Doch was es ist, kann ich nicht sagen.“
„In diesem Land war Uli Hoeneß ein Vertrauter der Kanzlerin. Was erwartest Du?“ antwortete Schill.
„Alles hängt mit allem zusammen.“
Sie hatten sich dem Rhythmus des Lebens ausgeliefert. Sie wussten, dass auch dieser Schatten vorbeiziehen würde. Jetzt aber standen sie auf der Bühne. Sie waren bedeutungslos. Das hatten sie erkannt. #
„Unser Vorteil“, schluckte Schill.
Dembowski stand an der Jukebox. Er drückte Stairway To Heaven.
Ferundula und Hagenberg-Scholz hockten über Spielerdaten.
Ein Telefon klingelte.
Dunkle Gewitterwolken rollten die Soldiner Straße in Richtung Osten hinunter.
Eine Propellermaschine steuerte Tegel an.