Dembowski suchte die Dunkelheit, und fand in einer Hauseinfahrt Briefkästen 


Ganz Berlin war auf Koks. Mal wieder. Es war vielleicht 7 Uhr, vielleicht auch 7.30 Uhr. Auf jeden Fall ging irgendwo hinter der Frankfurter Allee die Sonne langsam auf. Unweit der Warschauer Brücke sprangen ein paar Jugendliche aus einem Photoautomaten. Ein paar Typen mit tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen näherten sich der Gruppe, die jetzt  an den Treppen zum Suicide Circus stand. 

Ich blickte weiter. Sah nichts. Außer das stechende Morgenlicht hinter dem RAW-Gelände. Und die Schatten der Typen, die sich jetzt langsam auf mich zubewegten. Da waren sie schon. Ich schnippte meine Kippe direkt vor ihre Füße.

„Koks, Nutten, Speed?“

Sein Gesicht war grau, unter seine Augen hatten sich tiefe Ringe in seine Haut eingeschnitten, die Wangen waren eingefallen. Er hat keinen Hals, dafür jedoch umso breitere Schultern, dickere Arme.

„Was is. Koks, Nutten, Speed?“

Wie ich Berlin vermisst hatte. Gerade an einem Wochenendmorgen. Viele davon hatte ich nicht gesehen, und von den wenigen Wochenendmorgen, die ich gesehen hatte, waren mir die meisten Wochenendmorgen nicht mehr in Erinnerung. Warum, das wurde mir hier gerade wieder klar.

Ich hatte diese Stadt nicht nüchtern ertragen können. Ich hatte ihre Armut nicht ertragen können, und bekämpfte sie mit Trunkenheit. Ich hatte ihre Hektik nicht ertragen können, und bekämpfte sie mit Trunkenheit. Ich hatte ihre Gleichgültigkeit nicht vertragen können, und bekämpfte sie mit Trunkenheit, die mir auch im Kampf gegen die Wut, die Einsamkeit, die Langeweile, den Nahverkehr, den Fußball und  mich stets ein freundlicher Begleiter war.

Im Gegensatz zu diesen Gestalten hier, die, ich war leider nüchtern, einfach nicht zu ertragen waren. Ich hatte immer noch nichts geantwortet, und so pries er ein drittes Mal seinen Gemischtwarenladen an. 

„Taub? Koks, Nutten, Speed?“

Wo sind bloß die Nutten, fragte ich mich. Mehr jedoch noch, warum Piotr sich an der Warschauer hatte treffen wollen. Er wusste es doch auch. Ich funktionierte nur im Wedding. Nicht in der Kälte der der erwachenden Großstadt. Ich brauchte die Wärme der Soldiner, die langsam dahinfließende Panke mit ihren in Gelassenheit rostenden Einkaufswagen, die Kinder auf den Straßen, die Trinker in den Kneipen. Diese provinzielle Weltläufigkeit Friedrichshains war mir schon immer suspekt gewesen. Piotr aber auch.

Als der Halslose zum vierten Mal ansetzte, ging ich weiter. Er schrie mir noch einmal „Idioten! Koks, Nutten, Speed, und das gratis!“ hinterher. Die Welt fiel auseinander, morgens in Berlin. Und Europa starb.

Piotr jedoch war nirgends zu sehen. Ich fuhr mit der Tram in den Prenzlauer Berg, sah die Nachtgestalten, sah ihren Verfall, hörte sie schreien und sah ihre weit aufgerissenen Augen. Ganz Berlin war drauf.

An der Schönhauser sprang ich raus und ging an Baustellen vorbei in Richtung Alexanderplatz. Kurz vor Ende der Schönhauser, am Senefelder Platz war Piotrs Büro. Immer noch. Was war nur aus Winowski, der alten Wuchtbrumme geworden?

Es gab kein Vorzimmer mehr. Es gab kein Aquarium mehr. Überall lagen Unterlagen und inmitten der Unterlagen saß Piotr. Vollbärtig und fokussiert. 

„Ah, Dembowski! Schlecht, schlecht, schlecht!“

„Moin Piotr!

„Setz Dich, schnapp Dir ein Bier, aber lass mich in Ruhe. Du hättest schon vor Wochen hier vorbeischauen sollen. Jetzt ist es zu spät, mein lieber Freund. Jetzt ist es zu spät!“

Ich setze  mich und beobachte Piotr, der mit Zirkeln auf verschiedenen Karten Kreise markierte. Auf einer Stellwand hatte er ein paar Gesichter geklebt, und überall waren Fragezeichen. Auf eine Wand projizierte er eine Karte, die sich langsam bewegte. Es war dunkel, und manchmal sah man die Andeutung einer Welle.

„Wasn das?“

„MH370″

Ich trank mein zweites Bier, es war vielleicht 8.45 Uhr.

„Ey, Piotr. Wir waren verabredet.“

„Hier ist was aus dem Ruder gelaufen. Siehst Du das nicht. Brodski ist verschwunden. Unser bester Mann. Und mit ihm ein ganzes Flugzeug. Irgendwer hat Wind bekommen.“

Was mir Piotr dann erzählte, verstand ich nicht wirklich. Es ging um Russland, die Ukraine, den Iran, ein verschollenes Flugzeug, die USA, Katar, China und Uli Hoeneß.  Mir fielen langsam die Augen zu. Der Alkohol, die vielen Worte, diese endlosen Erklärungen., diese Namen. Oleg Chustrak, Sergei Deineka, Nioklai Brodski. Die Konstrukteure auf Diego Costa.

Ich wachte erst wieder auf, als ich durch den Nebel meiner Wahrnehmung den magischen Namen vernahm: „Koloniestraße“. Ich machte mir noch ein Bier auf. Es war jetzt 10 Uhr. Ich hatte immer noch nichts gegessen.

„Wir haben keine Zeit. Die Sache ist aus dem Ruder gelaufen. Verstehst Du überhaupt was? Wir müssen Brodski finden.“

“Wir?” 

Die Koloniestraße, die Piotr meinte, so stellte sich bald heraus, hatte wenig mit der Koloniestraße zu tun, wie ich sie kannte. Seine Koloniestraße war ein fensterloser Kellerraum unter einem Hinterhof meiner Koloniestraße.

Er führte mich die Stufen runter, durch lange Flure voller sensibler Technik. Piotr liebte seine Keller, so hatte ich ihn damals in den Masuren wiedergetroffen. So hatte er sich unter der Ostsee aus dem Staub gemacht.