DER RABE
Als er den Ermittler zum ersten Mal sah, war er vorher mehrere Stunden nahezu ziellos über dem Berliner Norden gekreist. Er hatte sich, erschöpft wie er war, auf einem Fenstersims hoch oben über einer Hauptverkehrsstraße niedergelassen. Und in ein Fenster geblickt. 
Der gekrümmte Ermittler, die weit aufgerissen Anlage aus der schwere Geigenklänge kamen, die verwahrloste Wohnung voller Pizzaschachteln, Bierflaschen, Zigarettenkippe und in der Mitte, theatralisch, der Ermittler, gekrümmt, auf den Knien, eine Whiskeyflasche fest umschlossen. 
Der Mann hatte Schmerz gesehen. Der Mann trug den Schmerz in sich. Und der Schmerz, das wurde ihm schnell klar, würde ihn so schnell nicht loslassen. Hatte er zumindest gedacht. 
Er beschloss, ihm zu folgen, ihn zu beschützen, ihm auf seinen Wegen ein Begleiter zu sein. Und dann, wenn es besonders schmerzvoll wurde, würde er auftauchen, nur für einen kurzen, meist unbemerkten Moment. Er würde ihm folgen, und ihn beschützen. Das beschloss er auf dem Fenstersims sitzend. Es war Ende Mai, der Sommer hatte noch längst nicht begonnen. 
Den Sommer über passierte nichts, der Ermittler hatte sich auf ein Anwesen im Oderbruch zurückgezogen. Er genoss die frische Luft, das reichhaltige Essen – hin und wieder stürzte er sich auf die verlassenen Graureihernester, doch zumeist begnügte er sich mit dem, was er auf den Feldern der Umgebung und in den nahen Uferbereichen fand – und freute sich über den erstaunlichen Wandel. 
Kein Schmerz mehr, dafür ausgedehnte Spaziergänge, ruhige Stunden am Gartenteich, aus dem immer wieder ein Karpfen seinen Kopf hervorhob und eindeutig die Nähe des Ermittlers suchte. War der Ermittler einmal nicht daheim, und spazierte ziellos durch den Oderbruch, brach er seine Flüge manchmal ab, platzierte sich auf einem alten Campingvan und beobachte die Frau, die sich mit Hingabe um ihre Lamas kümmerte. 
Einmal lachten sie für ein paar Tage, einmal war der Ermittler ein paar Tage verschwunden, und er nutzte die Gelegenheit für einige Abstecher zum Schiffshebewerk, dessen Neubau ihn faszinierte, und an dessen altem Teil er sich einige Male als blinder Passagier von dem einen Schiff hoch- und von dem anderen Schiff runterfahren ließ. Es gefiel ihm sehr. 
An einem Sommertag herrschte auf einmal Aufregung. Er schaute auf die vielen Menschen, die sich hier eingefunden hatten. Er machte einen besonders unsympathischen Typen aus, dem er fortan folgen würde. Vorher kommentierte er, aus sicherer Entfernung, das Lama-Rennen – welch ein Quatsch, dachte er, aber es geht ihnen gut! das zählt – mit wilden „rak, rak, rak, rak“. Dann verließ er die Lamafarm und verbrachte die nächsten Wochen auf den Spuren eines rasenden, wildgewordenen Menschen, der unentwegt in seine Smartphone hackte oder schrie. 
Das war weit unten im Süden, hinter zwei, manchmal sogar hinter drei Grenzen. Hinter noch viel mehr Bergen und noch größeren Flüssen und Seen. Hier trug man Anzug und er ruhte an den Felshängen, hoch über der Hauptstraße. 
Als der Sommer langsam dem Ende entgegen ging, als die Sonne früher über dem Fluss unterging, sah er eines Tages den Ermittler, der seinen Kopf laut brüllend aus einem verrosteten Bus hielt und immer wieder auf ein Haus am Ende der Ortschaft deutete. Er ließ sich auf dem Ortseingangsschild nieder und wartete. Der Ermittler deutete bald auf ihn und gestikulierte wild. 
Der Wind trug die Worte, klar und rein, wie sie waren, zu ihm rüber. 
„Schau Dir den Raben an“, brüllte er. „Der sitzt hier. Niemand weiß, wo er herkommt, wo er hinfliegt, wo er nächtigt, wann er geboren wurde und niemanden wird es interessieren, wenn er einmal gestorben ist.“ „Boah, Dembowski. Kannst Du einmal, nur einmal, mit Deinem Quatsch aufhören. Geboren, gestorben. Der arme Rabe. Wir steigen jetzt hier aus und ziehen das Ding durch!“, hatte die andere Person im Wagen geantwortet. 
Und so kannte er jetzt den Namen und so fragte er sich, ob Dembowski etwas bemerkt hatte, sich erinnerte. Doch die Beiden irrten einmal ums Haus rum, fotografierten durch ein Fenster und verschwanden. Ein paar Stunden später kehrte der Typ, den er so lange beobachtet hatte, zurück und verschwand ihm Gebäude. 
Ihn zog es wieder in die Hauptstadt. Dort beobachtete er den schleichenden Verfall Dembowskis. Das Leben hier tat ihm nicht gut. Meist lief Dembowski alkoholisiert in ein Büro. Dann kam er wieder raus. Einmal trugen sie eine Leiche aus dem Büro nebenan. 
In letzter Zeit war er nicht allein, in einem Kiosk gegenüber saß eine Frau, und beobachtete das Büro. Kaum hatte der Ermittler das Büro verlassen, verschwand die Frau. Einmal heftete er sich an ihre Fersen. Sie fuhr zum Schönhauser Tor. Und einmal als sie verschwand, und das Büro für lange Zeit nicht verließ, wurde es ihm unheimlich – denn sonst kam sie stets nach wenigen Minuten wieder raus. 
Er sah einen großen, schweren Menschen, der eilig zur Bahn schritt. Er spürte, was jetzt passieren würde und flog, so schnell er konnte, und er konnte schnell fliegen, zur Schönhauser Allee. Dort sah er den Mann, der weiter in Richtung Norden lief. Doch der Rabe bog noch an der Paul-Robeson-Straße ab, überflog die Bornholmer und die Kleingärten, in denen er sich kurz stärkte. Und als es immer dunkler und immer später wurde, sah er die beleuchte Glashütte am Ende des Weges. 
Er ließ sich nieder und sah zwei Menschen. Einer fluchte, der andere beschwichtigte. Bald standen sie auf, nahmen ein Bier von der Bar und verschwanden im Keller. Da trat Dembowski mit dem dicken Mann in die Kneipe und brüllte: „Kein Kronen? Was ein Scheißladen!“ Wenig später hielt er ein schweres Bierglas in der Hand.