Als ich am Freitag aufwachte, war die gleichgültige Unbeschwertheit des Sommers dahin. Natürlich, in den letzten Tagen hatten wir den einen oder anderen Schock verdauen müssen. Das diensttägliche Unwetter hatte den meisten Sonnenblumen das Leben gekostet. Ein schwerer Schlag für den Garten. An den restlichen Tagen der Woche hatten wir in stiller Trauer des Haus nicht verlassen. Wir konnten den Anblick der Zerstörung nicht betrachten. „Hier ist es auch nicht besser!“, hatte Dörte immer wieder wiederholt. „Enfliehst Du der Stadt, um Deine Ruhe zu haben, holt Dich dort die wütende Zerstörungskraft von Mutter Natur ein. Es gibt kein Entkommen!“ „So ist das, was die Menschen sich noch nicht genommen haben, behält die Natur nach ihren ganz eigenen Regeln ein“, hatte ich entgegnet. Danach hatten wir geschwiegen. Dem Lama ging es trotz des Unwetters gut. Und am Donnerstag brachte René mir einen ausgewachsenen Hecht vorbei. Dabei, so erklärte er mir, wollte er doch auf Barsche gehen.
Und als ich am Freitag aufwachte, dachte ich seit langer langer Zeit einmal nicht mehr an Lupinen, an die 1-Lama-Farm, an die Sonnenblumen, die Fische und die Fischer, nicht an den Oderbruch, nicht an die Ruhe. Es war sinnlos. Meine Selbstverleugnung musste ein Ende haben. Bundesliga war für mich seit meiner Geburt, oder eben nachdem mir als vierjähriger Bursche ein Blauer mit den Worten „Hau ab hier! Für Dich habe ich keine Zeit“ ein Autogramm verwehrt hatte, Dortmund. Ich wollte und konnte meine Leidenschaft nicht länger verleugnen. Vor wem auch? Vor Dörte? Die sich damals doch auch deswegen in mich verliebt hatte! Vor mir? Was wollte ich mit diesem sinnlosen Selbstversuch bezwecken. Die Oderbruchjahre, und wie ich hoffte, dass es Jahre werden würden, mussten nicht die Jahre des Fußballentzugs sein. Ich musste mich nur zurückhalten, keine Kommentare mehr schreiben, mich nicht mehr über Ultras, Medien, Politik, Vereine, Verbände und all das aufregen. „Ich muss mich zurückhalten!“, dachte ich und sprang aufs Rad.
Am Treidelweg entlang, immer dem Bieberbiss folgend in Richtung Eberswalde. Hier im Kaff gab es keine Zeitungen. Eberswalde war jetzt die große Stadt vor meiner Tür. Soweit war es gekommen. Und soweit hatte es kommen sollen. Ich war glücklich, aber eben auf der Suche nach Zeitungen. Seit Wochen hatte ich keine Zeitungen mehr gelesen. Seit Wochen hatte ich kein Fernsehen mehr gesehen. Das alles war jetzt hinfällig! Ligaauftakt! Und natürlich trieb mich auch meine Neugier an. Hatte Redermann DerSamstag! weitergeführt?
Davon war am Zeitschriftenstand am Eberswalder Bahnhof jedoch nichts zu sehen. Aber ich erinnerte mich an Redermanns Worte: „Regional! Ich mach das jetzt wieder regionaler! Amas, Jugend, Insiderwissen statt Prahlerei!“ Sollte er machen. Ich schnappte mir die Süddeutsche, die Berliner, die 11 Freunde, den Kicker, den Jahreskicker, den Tagesspiegel, die Frankfurter und hoffte auch in der Zeit etwas zu finden. „Ansonsten falte ich sie breit, damit ich schlafen kann, nach einem langen Tag“, dachte ich, verstaute die Zeitungen in meinen Rucksack, deckte mich im Discounter mit ein paar Getränken an und fand mich wenig später am Schiffshebewerk wieder.
Kippe an, Wasser auf, Zeitungen ausbreiten. Lesen. Lesen. Lesen. Alles lesen. Fußball aufsaugen. Das Leben kehrte in mich zurück. Das erste Mal seit 19 Jahren würde ich nicht beim ersten Heimspiel sein. Aber das war mir jetzt egal. Ich musste dringend handeln. Den Langen erreichen. Aber wie den Langen erreichen und Punkte bestellen. Die hatten wir bitter nötig, das war mir nach dem Studium der Zeitungen klar. Kaum war die Saison noch nicht begonnen, standen wir immer noch bei 0 Punkten. Und Bayern war einem sauguten Spanier dran. Das mit dem saugut hatte zumindest Beckenbauer unter der Woche behauptet, vorher, las ich irgendwo, hatte er ihn noch nicht gekannt, und als sich der Deal dann hinzog, fand er ihn auf einmal auch nicht mehr so gut. Bayern, das war klar, war der große Favorit auf den Titel. Das wusste auch Lahm, der mal wieder von dem besten Kader aller Zeiten sprach. Die Nummer vom Langen hatte ich nicht, Internet war mir nichts mehr. Der Lange würde das Ding ohne mich schaukeln müssen.
Auf dem Kanal schipperte eine Hochzeitsgesellschaft in Richtung Schiffshebewerk: „Du Idiot, das ist lebenslänglich“ schrie ich in Richtung Wasser, rannte auf den Bootssteg und schrie meine Faust drohend in die Luft reckend „LEBENS! LÄNGLICH! DU VERDAMMTER IDIOT!“ . Ich liebte die schockierten Gesichter der Hochzeitsgesellschaft, und legte noch einen drauf, drehte mich um, zog blank. Dann war das Schiff weg und hinter mir stand eine Gruppe Radfahrer, die meinen Ausraster scheinbar beobachtet hatten. Auch egal. Wenn ich schon nicht im Stadion sein konnte, musste ich meine Emotionen irgendwo oswerden.
„Emotionen respektieren“, brüllte ich ihnen ins Gesicht, schnappte mir meine Sachen und fuhr zurück in den Oderbruch. Ich konnte keine Menschen mehr ertragen. Dörte hatte ein paar Kürbise im Garten ausgelegt, das Lama stand wie immer träge in der Ecke rum, und ich ging direkt an den Kühlschrank, nahm mir ein Bier und wartete auf den Anpfiff, der erst nach Sonnenuntergang erfolgte. Dörte schüttelte den Kopf. „Muss das wirklich sein?“. Doch ich hörte sie längst nicht mehr. Über meine Kopfhörer hörte ich Rubbeldikatz am Borsigplatz und dachte an die kommende Spielzeit im Oderbruch.