Schill und Dembowski. So langsam konnten sie nicht mehr. Sie waren verbunden. Im Leid, nie in der Freude. Für Schill waren das keine Neuigkeiten. Es ging bergab. Immer schon. Seit Hamburg, seit sein Leben aus der Spur geflogen war. Nun blieb ihm der Bademantel, die Erinnerung an die gute alte Zeit.
In den letzten Tagen, ja Wochen, machte er sich Sorgen um seinen neuen Freund. Er kannte das. Es lag im Hamburger Blut, sich Sorgen zu machen. Um alles, um jeden. Und eigentlich kannte er Dembowski nicht, noch nie hatte er vom dem Nebel gehört, der über der Ermittler-Seele lag und in diesen ersten Wochen der Saison in einer neuen, besorgniserregenden Form die Realität verengte.
Angefangen hatte alles mit der Kagawa-Verpflichtung. Schill fand sie stark. Zum Preis eines halben Van der Vaarts gab es einen ganzen Shinji, und diese Euphorie. Obwohl, die kannte er nur zu gut. Und danach war es auch beim HSV immer nur weiter bergab gegangen. Aber der Holländer war alt, brachte zusätzlich noch eine Menge privater Probleme mit an die Elbe. Der Japaner hatte, soweit Schill informiert war, kein Privatleben. Er war Fußballer. Er war ein leidenschaftlicher Fußballer, dem das Lachen gestohlen worden war. Das würde sich schon finden, hatte der Kneipier seinem Freund Dembowski gesagt.
Doch der krittelte nur rum. Zu viel Marketing, zu viel Gerede von Leuchttürmen, und Kapitalerhöhungen. Er adressierte Probleme, die niemanden interessierten, und schwenkte innerhalb weniger Tage um. Auf einmal war der kleine Japaner der große Erlöser. „Scheiß auf die Verletzungen“, hatte er gesagt und Shinji und Kevin als die Retter der Saison gefeiert.
Doch diese Euphorie war schnell verflogen. Dembowski war längst wieder abwesend, in seinen Gedanken mal hier und mal da. Er wehrte sich mit immer mehr Bieren, er betäubte sich, er wollte vergessen, aber doch tauchte er an jedem verdammten Spieltag wieder im Soldiner Eck auf. Dann saß er da. Mit der linken Hand stütze er sein Kinn, mit der rechten Hand setzte der die Molle an seine Lippen und nahm einen tiefen Schluck
Manchmal schwieg er minutenlang, und manchmal vergrub er seinen Kopf unter seinen Armen, und verharrte in dieser Position. „Wenn ich mir nur die Ohren zuhalten könnte“, jammerte Dembowski. Aber er konnte nicht. Und so beobachte Schill Dembowski, der von Reifs Stimme gequält wurde. 1:0 durch Matip. Und Dembowski verschwand. Für ein paar Minuten. Ecke Schalke. Ramos, der dann Ball ins Zentrum passt. 2:0 Choupo-Moting. Der Ermittler verzweifelte. „Jedes Mal. Wenn ich nur blind wäre.“
Den Treffer von Aubameyang bekam Dembowski kaum mehr mit. Er starrte weiter auf den Fernseher, und sah Klopp mit geballter Faust durchs Bild springen.
„Schill!“, rief der Ermittler, „führen die Dortmunder gerade?“
„2:1 für Schalke. Du sitzt direkt davor.“
In der zweiten Halbzeit lief Borussia an. Doch da waren nur Mauern, Mauern, Mauern. Und einmal der Schiedsrichter. Aber Dembowski sah das alles nicht mehr. Er saß dort im Soldiner Eck und schrieb Bierdeckel voll. Bald hatte der Stapel Deckenhöhe erreicht.
„All die Fehler. All die Fehler“, ereiferte sich und schrieb und Schill starrte ihn an.
Dann stand Dembowksi auf. Und ging. Am nächsten Tag kam er wieder. Hamburg gegen Frankfurt.
Und diesmal saß Schill vor dem Fernseher, trank Pfefferminztee und schwieg und schüttelte seinen Kopf. Auch bei Nicolai Müllers Ausgleich schwieg er. Das hatte sich Schill vom Ermittler abgeschaut.
„Warum freust Du Dich nicht, Hauke?“
„Weil wir verlieren werden!“
So kam es auch.
Mittlerweile war Hagenberg-Scholz eingetroffen. Auf ein Bier vor dem Wochenstart. Auf ein Gespräch über das Derby. Er war natürlich da. Und fand das alles nicht so schlimm. Er war mit Hummels, Subotic und Co einer Meinung. Das passiert schon einmal. Ein paar schlechte Tage, ein paar Unkonzentriertheiten.
Dembowski war erstaunt, und mochte es, mit Justin zu sprechen. „Sieht mies aus in diesem Jahr. Die Verletzten. Die fehlenden Eingespieltheit. Dazu der Schlendrian.“
„Klopp hat eine defensive Taktik gewählt. Ohne einen kreativen Spieler in der Mitte. Schon komisch. Aber er wollte den Laden dichtmachen. Deswegen auch Ginter auf der 6.“
In der Folge kippten ein paar Spieler ab, und andere spielten den gezielten Fehlpass, der leider nicht sein Ziel erreichte. Die Ketten verschoben, und jemand stieß in die Räume. Fußball war Schach. Fußball war planbar. Davon gingen sie alle aus.
„Vielleicht haben wir diesmal am Erfolg vorbeigeplant?“
„Komm, Dembowski. Du sagst es doch auch. Die Verletzten. Daran liegt es. Immer wieder dieser Rückschläge.“
„Ich finde ja, dass es auch an Einstellung fehlt. Nicht einmal gegen die Blauen, aber gegen Stuttgart. Das schleppst Du dann mit. Und hast trotzdem einen Punkt geholt. Hättest sogar gewinnen müssen. Man kann ja immer nachlegen, auch wenn man nachlässig ist. Kann man aber nicht. Dieser Gedanke ist ein falscher Gedanke. Und sie denken zu viele falsche Gedanken, sie treffen zu viele falsche Entscheidungen.“
Doch Kritik am BVB war nicht erwünscht. „Du hast einfach keine Ahnung“, Hagenberg-Scholz kam jetzt richtig in Fahrt.
„Schau Dir doch einfach die Tabelle der Saison 2011/2012 an. Wir sind trotzdem noch Meister geworden. Bester Meister aller Zeiten. Und den Pokal haben wir auch noch geholt. Du hast doch auch gefeiert. Und hast Du mir nicht noch nach dem Arsenal-Spiel erzählt, wie toll diese Mannschaft ist? Hat sie überhaupt kein Kredit mehr?
„Was hat das mit Kredit zu tun?“
„Sie haben jahrelang am obersten Limit gespielt. Und dann die Verletzten. Und dann der ewige Druck und die Belastung. Und jedes Jahr geht ein neuer Spieler. Immer verlassen uns die besten und wichtigsten Spieler!“
„Wir haben für knapp 50 Millionen Euro eingekauft. Wir haben nur Lewandowski verloren. Was denkst Du? Sollten wir die Erwartungen runterschrauben?“
„Aber klar. Schau Dir doch nur die Zeitungen an. Die schreiben jetzt von einer Krise. Das sind Schweine! Die wollen nur ihre Blätter verkaufen, sind auf schnelle Klicks aus. Nirgends gibt es einmal nachhaltige Artikel! Mega-Krise! Was denken die denn? Wir sind nicht Bayern. Wir sind Borussia, es gibt nur eine Borussia.“
„Die andere Borussia steht gerade vor uns!“
„Dembowski, was bist Du eigentlich für ein Penner!“
„Ist ein klarer Blick so verkehrt?“
„Du springst auch auf jeden Zug auf. Die Mannschaft kommt schon noch. Lass die Verletzten erstmal zurückkehren. Lass die sich erst einmal einspielen. Die müssen ein Verständnis entwickeln, die müssen die Wege neu lernen. Und dann legen die einfach den Schalter um. Und Du wirst ganz vorne stehen, und wieder jubeln. Du wirst sie hochjazzen. Wie diese Zeitungen. Jetzt nennen sie das Krise. Die…“
Hagenberg-Scholz bewegte sich auf Vereinslinie. Niemand durfte den Verein kritisieren. Und niemand durfte Klopp angreifen. Und niemand durfte die Transferpolitik in Frage stellen. Nicht jetzt. Dembowski beschloss, noch ein wenig zu sticheln. Er legte seinem Diskussionspartner die Hand auf die Schulter.
„Justin, Du wiederholst Dich! Und wie stellst Du Dir das vor? Erst einmal sind die Texte alle sehr human, alle verweisen auf die Verletzungsproblematik, alle auf die Schwierigkeiten nach der WM. Aber der Punkt ist doch: Sie hätten die Spiele trotzdem gewinnen müssen. Arsenal war eine komplette Verblendung, denn das war wirklich perfekt. Aber Arsenal hat Dortmund auch Räume….“
„Darüber habe ich bei Spielverl….“
Dembowski konnte es nicht mehr hören.
„Ok. Lassen wir das! Wie stellst Du Dir das vor? Samstag. Das war nichts. Unkonzentriert in der Abwehr, ohne Druck nach vorne. Die Blauen muss doch auch so auseinandernehmen.“
„Nein. Du kannst auch mal acht schlechte Tage haben. So einfach ist das.“
„Aha!“
Langsam wurde der Ermittler sauer. Schill hatte sich längst auf die Plattform verzogen. Hin und wieder durchdrangen ein paar Tatort-Fetzen die Stille, die sich jetzt über den Raum legte. Dembowski und Hagenberg-Scholz schauten sich an. Sie verband nichts. Nur der BVB.
Der Ermittler überlegte lange. Kritik äußern war in Dortmund längst unmöglich geworden. Der Verein war Gott. Vielleicht ein wenig nachlässig mit den Eintrittspreisen, und vielleicht etwas überambitioniert, was das Marketing betraf, aber sonst? Besser nichts sagen. Aber Dembowski hatte vor langer Zeit geschwiegen, und sich damals vorgenommen, nie wieder zu schweigen.
„Weißt Du, Justin, wenn es nach Dir und den anderen Fans ginge, ist die Schuld nie beim BVB zu suchen. Klar, Ihr seid immer alle ganz vorne dabei, die Eintrittspreise zu kritisieren, sogar die Marketingmaßnamen, aber alles andere ist in Dortmund mittlerweile Gotteslästerung. Ihr habt Euch längst auf die Überbringer der Nachrichten eingeschossen, weil Ihr die Realität längst ausgeblendet haben. Cramer ist Euch ein Dorn im Auge, aber ihr seht nicht, dass Cramer nur an vorderster Front steht. Der BVB braucht die Einnahmen, der BVB muss oben mitspielen….“
„Wieso? Ich gehe auch hin, wenn die wieder um den Abstieg spielen!“
„Toll, Du bist einfach ein perfekter Mensch. Ein Vorbild. Für alle! Edel. Gewissenhaft.“
„Halt’s Maul, Dembowski!“
Aber natürlich ging Hagenberg-Scholz nicht. Wo sollte er schon hin?
„Der BVB ist ein Tanker, er ist unbeweglich, er nimmt nur ganz langsam Fahrt auf, und wenn er gestoppt wird, wenn er auf Grund läuft, passiert da gar nichts mehr. Dann ist es vorbei mit Deiner ganzen Schönheit. Der zweite Leuchtturm ist mittlerweile so hoch. Wenn er fällt, dann fällt er für ne lange Zeit. Ne ganz lange Zeit.“
„Geht es noch eine Nummer größer?“
„Ihr beschwert Euch über die ständigen Vergleich mit den Bayern, nur Ihr zieht diese Vergleicht nie. Aber ich habe eine Nachricht für Euch: Der BVB wollte diese Vergleiche, der BVB hat den Kampf angenommen. Weil die da Bock drauf hatten, weil Erfolg reizvoller als Mittelmaß ist, weil der Erfolg andere Probleme mit sich bringt. Die kann man meist einfacher lösen. Denn er bringt ja nicht nur Probleme, sondern Sponsoren und neue Fans, die neue Trikots kaufen. Borussia Dortmund ist keine Insel, und Borussia Dortmund mischt in diesem Geschäft mit. Zum Glück ganz oben.
Aber um weiter oben mitzumischen, müssen die Hausaufgaben in der Liga gemacht werden. Aber anstatt vollgeschriebener Hefte sehe ich da gerade nur einen jungen, sehr selbstbewussten und durchaus hochbegabten Schüler, dem das alles zu blöd ist, und der sich denkt, dass er diese Hausaufgaben nicht machen muss. Klassenarbeiten langen auch. Und wenn der Lehrer dann doch einmal was sagt, antwortet er patzig, sagt „ja, aber ich dachte“ und lächelt einfach weiter.
So kommst Du vielleicht sogar ins Finale nach Berlin, aber Du kommst nicht mehr in die neue Champions-League-Klasse. Leuchtturm fällt, und zwar für eine lange, lange Zeit. Reus weg, Gündogan weg. Wieder neue Spieler. Das hier ist keine Übergangssaison, das ist die entscheidendste Saison der jüngeren Vereinsgeschichte, und niemand sieht das. Du schon lange nicht mehr, Justin. Weil es Dir egal ist. Du zeigst weiter mit dem Finger auf die Presse. Die machen alles verkehrt, der BVB nichts.“
„Ja, Dembowski, aber ich dachte eher an….“
Der Ermittler stand auf, verabschiedete sich von Schill und ließ Hagenberg-Scholz am Tisch sitzen. Dembowski gefiel es, Hagenberg-Scholz am Tisch sitzen zu lassen.
In seiner Wohnung notierte Dembowski.
„Auch Mario Götze ist erst in seinem zweiten Jahr beim FC Bayern München angekommen.“
Dann legte er Dörtes neuen Hit Trümmer auf. Das Leben auf der Lamafarm machte im Moment wohl mehr Laune.