Ich stehe auf der Brücke, kurz hinter den Ruhr-Rock-Hallen, schaue über das Bahngelände. Mein Job ist weg, Dörte auch. Ich bin ganz allein. Vor ein paar Tagen bin ich in die Erdgeschosswohnung eingezogen. Ich bin das erste Mal draußen. Durch die Nordstadt geschlendert. An der Tanke rechts hoch. Auf der Brücke bleibe ich stehen, auf der einen Seite sehe ich die Silhouette der Stadt, wenn ich mich weit nach vorne beuge und an den Hallen vorbeischaue, schimmert das Stadion durch. Auf der anderen Seite der Brücke reiht sich Schiene an Schiene, Weiche an Weiche. Ein leichter Industrieschneefilm überzieht alles. Dezember 2007, kurz vor Weihnachten. Erst will ich über das Geländer steigen, ich lasse es. Die Ruhr-Rock-Hallen sind mein letzter Ausweg. Niemand lässt mich rein, es ist auch viel zu früh. Ich gehe zurück.

Am Nordmarkt mache ich Halt, kaufe mir ein Bier an der Bude, setze mich auf eine Bank, auch wenn es verdammt kalt ist, ich spüre schon lange nichts mehr. Der Verkehr auf der Mallinckrodt zieht an mir vorbei, ich gehe zur Bude, kaufe mir noch ein Bier. Niemand spricht mich an, nicht einmal die Dealer scheinen Interesse an mir zu haben, sie erinnern sich vielleicht an mich, an den tiefen Fall über den kleinen Fall. Haben sie Mitleid? Ich kann es nicht sagen, es ist mir egal. Es geht jetzt schneller, das Bier fließt, ich bin wieder im WM-Sommer, der Tag im Park und auf dem Balkon. Lange vorbei. Wird nicht zurückkommen. Keine Chance, Dembowski, denke ich und schaue mich um. Tristesse, wohin ich auch blicke. Ich mittendrin. Ohne Job, mit ein paar Euro auf der Tasche, die langsam in flüssige Lebenserhaltungsmaßnahmen umgetauscht werden.

In der Wohnung angekommen, versuche ich erst auszunüchtern, als mir das nicht gelingt, geh ich wieder vor die Tür. Die grauen, industrieschneeüberzogenen Straßenschluchten der Nordstadt. Die Fassaden notdürftig gestrichen, die Buden mit ihren Bierpreisen jenseits aller Vorstellungskraft, die Menschen davor in ihrer abgerissenen Kleidung. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Hinein in die Kneipe, einladend an der Ecke. An der Theke ein paar Hänger, ein paar Fernseher an den Wänden, die Wirtin sieht nicht gerade gepflegt aus. Ich setze mich an die Bar. Schlagermusik knallt durch die Jukebox, lange nicht mehr gehört. Das ist wohl die Nordstadt und mein Los, denke ich. Über der Theke baumelt eine Kahn-Replik. Auf der Rückseite eine Meisterschale. Auf den Fernsehern sehe ich die Länderchefs von Polen, Tschechien und Deutschland. Sie erweitern sich mit einer symbolischen Schlagbaumzersägung.

„Jetzt sind die auch noch dabei. Wir werden immer mehr. Das ich nicht lache. Mir kommen die Tränen, bei so viel Gefühlsduselei. Europa, einig Vaterland, oder was?“ Es sind nicht unbedingt Selbstgespräche, die der Typ da neben mir führt. Ich stehe auf, schaue mir erst einmal die Jukebox an, den Typen da braucht niemand, schon gar nicht ich in meiner desaströsen Verfassung. Immerhin finde ich Bronski Beat und Erasure. Also erst Smalltown Boy run away, turn away, run away, turn away, run away. Und dann and they covered up the sun until the birds had flown away and the fishes in the sea had gone to sleep. “Stark”, sagt der Typ jetzt “genau die richtige Mucke für diesen Laden. Ich bin Jens. Du warst hier noch nicht, oder? Die Musik nervt manchmal, aber sonst ist das hier das Leben. Ich saug hier alles auf, lass meine Gedanken treiben. Authentisch ist das hier, sag ich Dir. Das wahre Leben. Nicht so wie da draußen bei den Gelackten.“ Die Wirtin haut Runde um Runde raus. Wir sitzen da. Jens erzählt, ich trinke, höre ihm zu. Endlich. Befreit von meinen miesen Gedanken. Hier ist jemand, der das Leben versteht und kippen kann. „Hier, noch ne Ernte. Ich muss weg. Morgen früh wieder raus, ein paar Texte schreiben. Wenn Du mich suchst, Du findest mich hier. Meld Dich einfach, vielleicht hab ich was für Dich.“