Wenn eigentlich alles gesagt ist, zwischenzeitlich sogar etwas wie Erschöpfung eintritt, ziehe ich mich auf die hinterste Sitzreihe der M13 zurück. Ich steige an der Endstation Seestraße ein, fahre dann bis zur Bornholmer Brücke und laufe von dort in die Stadt runter.

Jetzt im Frühling war Kirschblütenzeit. Auf der Ostseite der Bösen Brücke blühten die Obstbäume, im Nordosten lagen die Lauben des Prenzlauer Bergs. In Wildbau standen sie dort, manche wirkten verwahrlost, manche hatten fein säuberlich und deutsch geschnittenen Rasen, ein paar der Lauben waren bewohnt, andere Lauben waren nicht viel mehr als Werkzeuglager. Innerhalb der Stadt gab es kaum einen besseren Ort, um Luft zu holen.

Ich durchschreite die Lauben, spaziere durchs Norwegerviertel und laufe den Schwedter Steg runter in Richtung Mauerpark. Auf halber Strecke bleibe ich stehen, blicke in Richtung Gesundbrunnen, sehe die Häuserschluchten des Prenzlauer Bergs im Osten und vor mir die Weite der Stadt. An sonnigen Tag leuchtet der Fernsehturm in der Sonne, an grauen Tagen liegt seine Spitze hinter Wolken oder Nebelschleiern verdeckt. Wenn ich mich noch näher in Richtung Mitte traue, sieht man das langsam verschwinde Graffiti der WM 2006 an der Häuserwand in der Bernauer Straße. Dort, wo einst die Mauer stand, haben sie ebenfalls Town Houses hochgezogen. Es ist furchtbar. Oder der Lauf der Dinge, wie mir ein willkürlicher Passant erzählen würde.

Der Lauf der Dinge, das war es, was mich beruhigte. Ins Leben geschmissen, dann mal hier und mal da und am Ende immer unter der Erde. Was wir dazwischen machte, blieb uns überlassen und wenn es unser Traum war, sich als Ermittler auszugeben, dann stand dem nichts im Wege. Überhaupt nichts. So wie sich nach jeder Stadt ein weites Feld öffnete, so ergab sich nach jedem Rückschlag eine neue Chance.

Vor genau vier Jahren, dachte ich, war ich am anderen Ende der Stadt. Damals war es bitterkalt, wir wärmten uns auf den Lüftungsschächten und träumten von der großen Sensation. Wir wollten den übermächtigen Favoriten FC Bayern München besiegen und redeten vor dem Stadion stehen doch nur über das neueste Gerücht.

Der Mainzer Trainer und TV-Star Jürgen Klopp, erzählte man sich damals, werde zur kommenden Saison den Ballspielverein übernehmen. Nun hatte jeder eine Meinung zu dieser Verpflichtung. Dass Doll mit seinem Porsche verschwinden würde, war allen irgendwie klar, aber ob Klopp, der Trainer, der es mit Mainz in der zweiten Liga nicht geschafft hatte, der Mann für uns war, daran hatten wir doch unsere Zweifel. Wie sich die Zeiten doch änderten. Auch wenn wir uns durch ein Tor von Petric in die Verlängerung retteten und Kringe dort sogar kurz vor dem Siegtreffer stand, waren wir an diesem Abend der moralische Sieger und seit langer Zeit auch mal wieder in Europa unterwegs.

Auf einmal ging alles ganz schnell. In der ersten Saison scheiterten wir noch an der Vorsicht, dem Schiedsrichter und Gladbach, doch der dann folgende Aufstieg an die Spitze war unwiderstehlich. Vier Jahre später jetzt, dachte ich am frühen Morgen auf dem Schwedter Steg stehend, waren wir zumindest vorerst und zumindest auf nationaler Ebene an den Bayern vorbeigezogen. In weniger als einem Monat würden wir, so sehr wir uns auch dagegen sträubten, als leichter Favorit auf den Rasen des Berliner Olympiastadions laufen.

Unser Petric hieß jetzt Perisic. Unser Kringe hieß jetzt Großkreutz. Unser Doll hieß jetzt in der Tat Klopp. Es war unglaublich. Doch ich von den Gedanken an diesen Aufstieg aus der Asche dermaßen erschöpft, dass ich umkehrte, mich auf die Betonwüste am Gesundbrunnen setzte und auf die Uhr schaute. In 36 Stunden würde ich in der Kneipe sein, in 60 Stunden irgendwo in der Stadt. Feiern. Hoffentlich. Doch noch waren da 2×90 Minuten. Die Heimmannschaften benötigten mindestens zwei Punkte zum vorzeitigen Titelgewinn! Ich war erschöpft und voller Vorfreude.