Auch auf den Sandstraßen rund um das Campo Dembowski ist man sich unsicher. Was würde die WM 2014 bringen? “Bitte nicht abkacken!” ist der große Wunsch. Doch kann die Löw-XI diesen Traum mit Leben füllen? Die Ausgangslage ist unklar. 
Ein paar Tage vor der WM. Pfingstsonntag, eine bleierne Hitze liegt über Berlin. Es ist bereits spät, doch in der Wohnung da oben an der alten Grenze hält mich nichts mehr. Es ist zu heiß, und in meinen Gedanken bin ich immer noch im Campo Dembowski, doch das liegt am fernen Stadtrand. Es ist Pfingsten. Und in irgendeiner Bar wartet sicher noch ein letztes Bier auf mich. 
„Du musst Dir das vorstellen“, schreit mein Nachbar sein Gegenüber an. Seine Stimme durchdringt die Gitarrenwände, die sich aus der 8mm-Bar da unten am Schönhauser Tor über die Straße legen. „Früher haben da 200.000 Menschen reingepasst. Uruguay gegen Brasilien. 1950. Jeder konnte sich das leisten, jeder konnte da rein, freie Platzwahl.“ 
Die ersten Worte der WM-Woche 2014, es ist ein paar Minuten nach Mitternacht. Natürlich. Schon vorher waren hier und da ein paar Fahnen zu sehen, unter die Auslagen der Kioske mischten sich die WM-Sonderhefte, ein paar Häuser waren bereits beflaggt. Meist mit der deutschen Fahnen, manchmal auch in den Farben des Irans, von Italien, England, Brasilien, Ghana. Das hier ist Berlin. Solange man die Grenzen der Stadt nicht erreicht, war die Stadt wenig national. 
Trotzdem. An jeder Ecke. An jeder Imbissbude. An jedem Späti und in jedem Biergarten liefen die Vorbereitungen für die WM.  Und dann diese Worte. 
„Früher haben da 200.000 Menschen reingepasst!“ 
„Echt?“ 
„Heute nicht mehr. Die haben alles plattgemacht. Das Stadion umgebaut. Neue Parkplätze. 70.000 Menschen. Und niemand kann sich das mehr leisten. In Manaus….“
Ich verlasse die Unterhaltung. Zu viele Gitarrenwände. Zu viel Hitze. Sie dauert an. Noch nicht so lang, aber vielleicht wird es wieder ein Jahrhundertsommer – so wie 2006, als der Fußball auf einmal wieder Nationalsport wurde. Und als ich, vielleicht auch weil es so heiß war, ein Deutschland-Schweißband trug.
Wahrscheinlich aber fand ich das zwischen all den Fans aus all den anderen Ländern vollkommen normal. WM. In Deutschland. Und es war fantastisch. Bis das Tor fiel, bis sich das Schweigen aus dem Dortmunder Westfalenstadion langsam über ein ganzes Land legte, und am Dortmunder Hauptbahnhof ein Polizist „jetzt sagt doch endlich was, irgendwas!“ schrie. 
Aber das hier war nicht mehr 2006, das war hier nicht mehr die WM in Deutschland. Das hier war 2014. Und in wenigen Tagen schon würde die WM in Brasilien losgehen. 
Ich trank noch ein Bier. Und redete. Über Musik und gegen die Gitarrenwände. Irgendwas war passiert in den vergangenen Jahren. Nach einem kurzen Comeback der Romantik in der Gestalt der Dortmunder Meisterelf von 2011er und 2012er Meisterelf, hatte sich der Turbokaptitalismus mit aller Macht zurückgekämpft. Auf allen Ebenen.  Es war ja nicht nur die FIFA, es war ja nicht nur die UEFA, es war ja nicht nur Hoeneß, und es waren ja auch nicht nur die spanischen Verhältnisse oder die Echte Liebe.  Ein allgemeines Unwohlsein lag schon seit langer Zeit in der Luft. 
Und jetzt die WM. Die WM, die Deutschland endlich den ersten großen Titel seit 1996 und den ersten Weltmeistertitel seit 1990 bringen sollte. Die Goldene Generation. Özil, Müller, Lahm, Khedira, Gündogan ,die Bender-Zwillinge, Reus, Götze, der alte Klose, Hummels, Neuer, Mertesacker, der ewige Podolski, sogar Schweinsteiger und Schürrle, Boateng und wie sie alle hießen. Die beste Mannschaft aller Zeiten. Mindestens! Und auch wenn ein paar Spieler schon vorher weggebrochen waren, der Reboot nach 2000 hatte dem deutschen Fußball gut getan. Endlich war er wieder auf Jahre hinweg unschlagbar. 
Aber der deutsche Fußball krankte. Er krankte an den spanischen Verhältnissen. Und er krankte an seiner Langeweile, die sich die Presse durch Rekordezählen und den deutschen Krassiko, denn „an einem guten Tag kann der BVB die Bayern in einem Spiel schlagen“, schönredete. Der Abstiegskampf, das wurde gerne angeführt, war auch von gehobener Qualität. Aber natürlich. Das glaubten nicht einmal die, die es schrieben, um etwas zu schreiben, um damit ihre Seiten mit ihren eigenen Ideen, oder zumindest nicht mit denen der hauseigenen Propaganda-Sender zu füllen. 
Da – bei BVB & HSV Total, bei FCB.de und S04-TV – war die Welt in Ordnung. Keine Frage. Jeder Rückschlag war ein Bock, den man umstoßen konnte. Jede Krise, eine neue Chance. Und so erzählten sie ihre Version der Geschichte, während auf Twitter zynische Kommentare in den Kreis der Zynischen, und auf Facebook absurde Kommis in das Reich der Absurden ihre jeweils eigenen Geschichte erzählten. Eine bleierne Hitze lag über dem Fußball, während Cristiano Ronaldo sein Trikot auszog, um seinen astreinen Körper in 202 Ländern zu präsentieren. In Nordkorea, so munkelten sie, wurde die Szene geschnitten. 
Fußball war sauber, Fußball war Massensport und Fußball bedröhnte die ziellosen Massen im kriselnden Europa. Fußball war der Kitt der individualisierten Bevölkerung, deren Spuren in großen Speichern gesammelt wurden, die sich in Shitstorms und Online-Petitionen gegen die Herrscher erhoben, es ihnen „mal so richtig zeigten“, ja manchmal erzielten sie sogar Erfolge, dann äußerte sich Markus Lanz, und dann traten Freiwild nicht auf dem Echo auf, und dann gab es ein Public Viewing, weil es immer ein Public Viewing gegeben hatte. Fußball, und den Rest den heilte die Zeit. Dachte man. Vor der WM 2014. 
Ich sitze noch immer vor der 8mm-Bar, langsam wird es hell. Es ist Zeit, diesen Ort zu verlassen. Wenn wir Spuren hinterlassen, dann nur in den Kassen der Barbetreiber. Wir ertränken uns, denn es ist Sommer und „so jung kommen wir nicht mehr zusammen.“ So schwermütig aber auch nicht, denke ich und stehe auf. Das kann es nicht sein. Es ist WM. Die ungelesenen Sonderhefte liegen ordentlich auf einem Haufen, in Sao Paulo duellieren sich Blatter und Platini. Die Rolle Beckenbauers bleibt unklar, die Vorwürfe prallen ab. In den U-Bahnen kämpfen die Sao Paulo City-Cops gegen die Streikenden. Die WM-Eröffnung ist in Gefahr. 
Oliver Bierhoff betritt brasilianischen Boden. Und mit ihm seine Gefolgschaft, die Spieler, die den Weltpokal nach Deutschland holen sollen, die Trainer, die Scouts, die Köche, die Delegation, die Sponsoren und die investigativen embedded journalists, die sogleich Bilder nach Deutschland übersenden. Alles ist in Ordnung. Nur Kevin Großkreutz konnte sich wieder nicht benehmen, er trug ein Bayern-Shirt! Ein veritabler Skandal, der jedoch alsbald von der Folklore der Ankunft im Campo Bahia vertuscht wird. 
Nach Johann Ramoser, der während des Trainigscamps als verwirrter Polizist zu kurzzeitigem Ruhm gekommen war, sehen wir jetzt die Bilder der legendären Fähre, die nach langer Fahrt entlang des letzten verblieben Stück Edens erreicht wird. Alles ist angerichtet. Sogar ein paar Indianer haben sich aus dem Reststück Wald an den Fähranleger verirrt als die deutsche Nationalmannschaft endlich in ihrem Basislager eintrifft. Sie jubeln den Spielern zu, und, ja, Poldi kann sogar eine Nachricht in die Welt senden. Alles ok. 
Am nächsten Tag ist öffentliches Training. Alle stehen sie Schlange. Die Privatpersonen werden Fußballstars. Werden echte Menschen. Oliver Bierhoff hat sich einen Deutschland-Iro aufgesetzt. Er muntert die Presse auf, gibt ihnen Tipps und über die Sandstraßen strömen die Leute herbei. Wieder kommen ein paar Indianer. „Wir waren uns nicht sicher, aber am Ende haben die Spieler mit den Indianer getanzt“, wird der Manager der Nationalelf später im Space Shuttle der versammelten Weltöffentlichkeit erzählen.  Im Campo Bahia ist die Welt in Ordnung.
Auf den Sandstraßen rund um das 9.200 Kilometer entfernte Campo Dembowski ist alles bereit für die WM. Aus einer benachbarten Holzhütte höre ich Pur. Engler singt: „Wo sind all die Indianer hin? Wann verlor das große Ziel den Sinn?“ Ja, wann eigentlich, frage ich mich und mache mir noch ein Bier auf. Die WM kann kommen, es wird spannend.