Kurz vor dem Spiel sind die England-Fans in der WBB noch euphorisch. “Die können Liverpool werden”, sagen sie und wollen nicht akzeptieren, dass Liverpool die Meisterschaft noch vergeigt hat.

99 Jahre nachdem Piotr Manaus in Richtung Iquitos verlassen hatte, nur um dort den Kult der Konstrukteure zu bilden, der unser Leben noch ein Jahrhundert danach so maßgeblich bestimmen sollte, kam die WM in die Stadt am Amazonas. Eigentlich hätte dies mein Tag sein sollen, doch die letzten drei Jahre waren wenig erfreulich verlaufen.

Wenn Piotr mir auch noch freundlich gesinnt war, so hatte er andere Pläne für mich. Immerhin war ich als DerSamstag!-Herausgeber weiterhin an Iquitos gebunden, leider nur Iquitos Publishing, dem größten Verlag der Konstrukteure-Schattenwelt, der sich durch seine Mittelmäßigkeit auf allen Ebenen auszeichnete, und im Wust der Qualitäts-Zeitungen durch die eindringliche Belanglosigkeit seiner Publikationen herausstach.

2014 nährte ich mich somit weiter von den Brotkrumen, die mir das Leben auf dreckigen Straßen servierte. Anstatt Manaus, anstatt Iquitos blieb mein WM-Standort das Campo Dembowski, an den Außengrenzen der Hauptstadt, auf deren nicht mehr vorhandenen Innengrenzen Harder dereinst den Kampf mit dem Schlangenmaul aufnahm.  Doch das Tegeler Fließ hatte Harders verzweifelte Spuren längst abgetragen, was übrig blieb waren ein paar Bruchstücke einer Mauer, die das Leben auf beiden Seiten in schwarz und weiß unterteilte hatte, und dann auf einmal in sich zusammengebrochen war.

Die Bruchkante bleibt, und während die Eingeborenen auf den Sandstraßen rund um das Campo Dembowski wieder einmal ihre Tiere spazieren führen, bald hier und bald da halten, und sich ein paar Konversationsbrocken zuschmeißen, und einer sich eine Zigarette anzündet, erst auf seinen Zaun und dann auf seine Deutschland-Fahne schaut, und im Stechschritt auf die Sandstraße tritt, rast wenige Meter weiter jemand die letzte verbliebene Asphalt-Straßen stadteinwärts.

Auf einer Großbildwand im Norden der Stadt zeigt sich Mehmet Scholl guter Dinge, dass die Sache bald ausgestanden ist und überhaupt sei man ja hier, um über Fußball zu reden. Nur ein paar Leute stehen vor der Leinwand, als der schwarze Mercedes auf dem Gelände zu stoppen kommt, und ein wilder Mann mit weißem Unterhemd und blauer Trainingshose herausspringt. Er schaut sich einmal um, geht zielstrebig auf den Bierstand zu. „Hoffentlich schaffe ich das!“, denkt er sich und setzt sich, während wieder einmal ins Campo Bahia geschaltet wird auf eine Strandliege.

Dort wird er die nächsten 10 Stunden verbringen. Am Ende des Tages wird er seinen schwarzen Mercedes vergessen haben, und mit der S-Bahn in Richtung Grünau fahren, wo er am nächsten Tag aufwachen wird, und einem zufällig vorbeilaufenden Passanten „Eure Zukunft ist meine Vergangenheit ist Eure Gegenwart!“ entgegenschreien wird.
Es war spät geworden gestern,  ich wache erst um 15 Uhr auf. Ein Erdkröte blökt „ööök, ööök, ööök“ während sie von der letzten verbliebenen Ringelnatter im Campo Dembowski verschluckt wird, ich setze mir meinen Strohhut auf und trete nur mit einer Boxershort bekleidet vor die Tür. Wie jeden Morgen setze ich mich mit einem Kaffee in der Hand auf die Veranda der Bretterbude, und sehe erst als ich aufstehe, die blaue Schrift auf braunem Grund. „Pirlo ist einer von uns! Hüte Dich vor Zwanziger!“
Salz in meine Wunden, kein Manaus, kein Pirlo, nur Zwanziger, nur Niersbach, nur das quälende Wissen um das anstehende Ende des Fußballs, nur Bierhoff, Löw, Blatter, Platini, Rummenigge, Marketing, und dabei wollte ich das Spiel betrachten.
Ich kann nicht nüchtern bleiben und schütte mir bereits vor Kolumbien gegen Griechenland einen kleinen Whiskey gegen die Angst ein. Vom Spiel bekomme ich wenig mit, aber auch so wäre es nicht groß in Erinnerung geblieben. Vielleicht hatte ich eine taktische Revolution verpasst, aber mit der nächsten taktischen Konterrevolution würde ich auch diese Schmach tilgen können.

Ich bekomme vom Spiel wenig mit, weil ich die Bilder auf den riesigen Stellwänden im Campo Dembowski hin und herschiebe. Neue Verbindungen herstelle, und mich mir nicht mehr sicher bin, welche Seite schwarz und welche Seite weiß sein soll. Es gibt keine Grautöne, nicht auf einer Stellwand mit diesen fatalen Verflechtungen.

Watch them fall! Watch me fall!
Aber was bedeutet: Hüte Dich vor Zwanziger” und wieso hat Piotr (dass es Piotr war, daran hatte ich längst keine Zweifel mehr, er liebte Pirlo wie seinen eigenen Sohn) mir das nicht ins Gesicht sagen können? Zwanziger kämpfte gegen Niersbach, der den Verband gegen Zwanziger aufhetzte und der Beckenbauer, dem es kurzzeitig die Sprache verschlagen hatte und dem es daher nicht gelungen war, ein paar Fragen zu beantworten, und der sich mit einer Finte hatte herauswinden wollen, die aber durch die von Zwanziger vorangetriebene FIFA Ethik-Kommission nicht akzeptiert wurde, aber genau diese FIFA Ethik-Kommission war von vornherein der Lächerlichkeit preisgegeben worden. 

Wer einmal betrügt, dem glaubt man nicht. Und die FIFA hatte, da waren sich die meisten wieder einig, öfters zumindest nicht mit legalen Mitteln gearbeitet. Was aber nichts darüber aussagte, dass die Gegenseite mit legalen Mitteln kämpfte und wer war in diesem undurchschaubaren Fall, aus dem alle bis auf den Fußball ihren Vorteil gezogen hatte, überhaupt auf welcher Seite und wann hatte er diese gewechselt. Immerhin gab es am Campo Bahia ein McDonalds-Restaurant, das beruhigte mich innerlich, und ich nahm noch einen Schluck Whiskey, machte mich sodann ausgehfertig. Vier Spiele! Und erst eins runter!

Für den Kick zwischen Costa Rica und Uruguay setze ich mich wieder in die Tram, er Zauberer, es ist noch hell, es ist Samstag, und niemand kümmert sich um dieses Spiel, das nach einer normalen ersten Halbzeit mit der ersten richtigen Sensation der Weltmeisterschaft enden wird. Costa Rica überspringt Uruguay, die sodann in klassische Verhaltensmuster zurückfallen, und endlich treten. Der erste Platzverweis, ausgesprochen natürlich vom sehr guten deutschen Schiedsrichter Felix Brych, der mit seiner Spielleitung Tom Bartels zu richtigen Jubelstürme verleitet.

England gegen Italien. Rooney gegen Pirlo. Sterling gegen Balotelli, schaute ich in der Willner Brauerei im südlichen Pankow. Einige kahle, kalte Räume. Engländer, Italiener, ein paar Fußballfans und der Kick in Manaus, den ich doch so viel lieber an dem Ort gesehen hätte, den Piotr vor 99 Jahren verlassen hatte. Es ist ein tolles Spiel, so wie viele Spiele bei dieser WM tolle Spiele waren, aber Rooney macht einen Schritt zu wenig, und verzieht, während Pirlo die Fäden zieht, Balotelli trifft, Italien gewinnt. Es ist ruhig in der Brauerei. Nur die wenigen Italiener jubeln, ein paar andere verbringen das Spiel mit dem Rücken zur Leinwand. Die WM als soziales Ereignis. Da war ich dabei, das war cool. Es gibt nicht nur Anja & Tanja, die männlichen Fans sind nicht unbedingt besser.

Beim Spiel zwischen der Elfenbeinküste und Japan schlafe ich, während sich über dem Campo Dembowski ein neuer Tag ankündigt, whiskeyschwer ein.