Den Sonntag verschlief ich komplett. Japan gegen die Elfenbeinküste. Live nach 10 Bieren und 5 Whiskeys, nach der Piotr-Nummer. Ich war geschockt. Schwer geschockt. Und sah die Schweiz, sah Frankreich und sah Argentinien gewinnen. Im Bett, auf den Ergebnistafeln, wo man es eben so sieht.
Und nach dem ersten Deutschland-Spiel war ich komplett erschlagen, zutiefst gespalten. Das Campo Dembowski verließ ich wieder nicht. Sah nicht einmal die Nachbarn, die ich zwar hörte als sie ihre Böller abfeuerten, die ich aber nicht sah. Ich war blind vor Wut, sah rotes Blut, war begeistert von der Mannschaft, musste bei Löw Abbitte leisten, mich verteufeln, die Party-Patrioten verteufeln, meine Unfähigkeit zwischen Spiel und zwischen dem Rest zu abstrahieren.
Oder gehörte alles zusammen? Alles gehört irgendwie immer zusammen. Wir sind so, wir können nicht raus. Nicht aus dem Körper, in dem wir geboren sind, und in dem wir irgendwann sterben werden. So war das. Ich dachte an das Leben und Sterben, und meine Laune war im Keller. Campo Dembowski hatte auf Halbmast geflaggt. Zumindest innerlich. Nach außen musste ich den Schein waren.
Denn es war der Tag, an dem die WM in Deutschland ankam. Das erste Spiel, die Untergangszenarien, die Ahnung vom Super-GAU. All das bestätigte sich nicht, weil Götze fiel und Müller traf. Weil Hummels wuchtete, und Müller traf, und Pepe nur den Hals. Ach, wenn es nur Fußball wäre. Wenn es nur das Spiel wäre, dann wäre die Hummels-Verletzung, die sich als nicht wirklich schlimm rausstellte, der größte Ärger gewesen.
Aber es war nicht nur ein Spiel, es war eben auch der Tag an dem die WM nach Deutschland kam, nach Berlin kam, und sogar bedrohlich nah an das Campo Dembowski heranreichte. Wie gesagt, ich sah nichts, weil ich nichts sehen wollte, aber ich hörte, weil der Schrei der Euphorie zu laut war.
Jetzt würde es wieder über dieses Land hereinbrechen. Jetzt würden sie, die Unscheinbaren, wieder beflaggen. Bislang hatte sich das in arg überschaubaren Grenzen gehalten, und so war es mir gelungen, die Störgeräusche, die ich, wie ich mir immer wieder vor Augen hielt, 2006 vielleicht sogar 2008 noch gar nicht so wahrgenommen hatte, auszublenden. Das würde jetzt nicht mehr gehen. Ab Dienstag verfolgen Sie Dich auf Tritt & Schritt, Dembowski, sagte ich mir.
Aber Du verlässt das Campo Dembowski doch nicht, antworte ich mir. Und trank wieder. Viel zu viel. Ich trank, weil ich es nicht aushielt, ich trank, weil ich nicht wußte, was ich nicht aushielt. Ich trank, weil mich der Gedanke daran, in den nächsten Wochen vor die Tore des Campo Dembowski treten zu müssen, Angst bereitet und ich trank, weil ich diese Angst nicht verstand. Ich trank, dachte ich, während ich die Flasche zum Mund führte, den Kopf in den Nacken legte, und sie leerte, zu viel. Viel zu viel.
Herr Podolski und Frau Merkel ? ?#Butfirstletmetakeaselfie pic.twitter.com/OiMWtvSdFQ
— Vatreni Zmajevi ♥ (@Sara1900FCB) 16. Juni 2014
Aber wie sollte man das aushalten? Da gewinnt Deutschland mit 4:0, liefert eine überraschend starke Leistung ab, und alles in mir ist Menschenhass. Alles, wirklich alles, zumindest das, was ich noch denken konnte, war Menschenhass. Das war bevor ich die Propaganda-Bilder, die Honecker damals mit Witt nicht besser gestellt hatte, aus der Deutschland-Kabine sah.
Ich war nur zu betrunken, um zu wissen, was nach Menschenhass kam. Immerhin, dachte ich, und arbeitete weiter gegen mich. Das Campo Dembowski war an diesem Montag ein Scherbenhaufen, dabei hatte Deutschland gewonnen, tollen Fußball gespielt und eigentlich hätte alles in Ordnung sein können. Aber etwas in mir war zerbrochen, schon vor zu langer Zeit.
„Ah, der Herr Ermittler. Wieder mal im Selbstmitleidssuff weil Deutschland nicht verloren hat?“, schrie jemand über den Zaun. Und ich hörte ja noch, ich sah nur nichts mehr, weil ich blind vor Wut war. „Halt’s Maul!“ dachte ich und antwortete nicht, hörte lieber Steffen Simon zu, der über den Südländer an sich lästerte, und erfreute mich an Opdenhövel, der mit Scholl soeben den WM-Titel errungen hatte.
Glückwunsch – perfekter Einstieg ins Turnier! pic.twitter.com/quPPoQiBVq
— Steffen Seibert (@RegSprecher) 16. Juni 2014
„Hallo, Party-Patrioten“, schrie ich verstummend, während mir den Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Ich stürzte. Tief. Vielleicht war ich ohnehin schon am Ende angekommen, und blieb einfach auf der Stelle stehen, legten den Kopf in den Nacken, setzte die Flasche und trank. Wie sollte ich das in meinem Zustand noch wissen.
Große Freude, Bundeskanzlerin Angela Merkel zu treffen. Wir teilen die Leidenschaft für den Fussball und die #WM2014. pic.twitter.com/yUcSLn1R4W
— Joseph S Blatter (@SeppBlatter) 16. Juni 2014