Der Anführer der Aufständischen war ein in Modefragen versierter Fußballfachmann, der wenig von Lamas verstand. 

Hinter dem Campo Dembowski lag die große Weite. Am Ende der letzten Sandstraße bog ein kleiner Trampelpfad nach rechts, und bereits nach einigen hundert Metern durch wilde Brennnesselfeld erstreckten sich riesige Wiesen bis an den Horizont.

In den Morgenstunden war es mir dort schon einige Male gelungen, die Rufe der Kraniche einzufangen. Vielleicht waren sie zu müde, um den Sprung über die Ostsee zu wagen. Vielleicht war der Berliner Norden bereits ihr Norden.

Manchmal, wenn der Frühnebel noch über den Wiesen lag, reichten die Kraniche bis zum Horizont. Ihr Gesang stimmte mich glücklich. Meist setzte ich mich im Morgengrauen mit einer Thermoskanne Kaffee unter eine alte Eiche. Trank den dampfenden Kaffee, sah, wie die Weite klarer wurde, und, unter großem Geschrei, die Kraniche zu mir unbekannten Zielen aufbrachen.

Manchmal sah ich in der Ferne einen Jogger, der immer zur gleichen Zeit im schnellen Lauf aus dem Osten kommend in Richtung alte Grenze rannte. Er trug ein weißes Shirt, hatte schwarze Haare und strich sich, wenn er direkt vor mir, aber noch in rund 300 Meter Entfernung war, die Strähnen aus dem Gesicht.

Wie Jogi, dachte ich dann und wähnte mich im Campo Bahia.

Ein Kranich stieg krächzend in die Luft.

Doch als ich aufstand und den Weg zurück durch die Brenneselsträucher nahm, standen da nur die Einheimischen in ihren Trainingsanzugshosen und erzählten von vergangenen Triumphen. Mittlerweile hatte die WM, zugegeben es war noch erträglich, auch die Sandstraßen rund um das Campo Dembowski erreicht.
Doch an diesem Freitag waren sie seltsam aufgeregt. Deutschland spielt doch erst morgen, und der Rest, der Rest, der zählt für die doch nicht. Die, das waren die Einheimischen, denen ich jedweden Fußballsachverstand absprach. Was hatten sie schon zu melden? Während der Saison saßen sie um ihren Fernseher und starrten auf die Bundesliga, und wenn es drauf ankam auch auf die Champions League. Sie tranken Bier aus großen Flaschen, und hatten immer eine Flasche Schnaps auf dem Tisch.

Das war grundsätzlich nicht verkehrt, ich selbst, das war mir durchaus bewusst, hatte in meinem Leben schon öfters mal einen über den Durst getrunken. Aber ich war in Fußballstadien zuhause, ich war der, zu dem man aufschaute, und ihn ehrfürchtig den Ermittler nannte, weil ich ein Gespür für das Spiel hatte. Und die, die hier standen, und jetzt seltsam aufgeregt waren, hatten kein Gespür, hatten nichts, und noch nie ein Stadion von ihnen gesehen. Sie trugen Deutschland-Fahnen auf ihren Bierbäuchen und schwangen Stammtischparolen. Sie waren die Einheimischen auf den Sandstraßen rund um das Campo Dembowski. Ich war Dembowski. Mir gehörte der Laden.

„Mit Ihnen hätten wir dann auch gerne noch ein Wörtchen zu wechseln“, sprach mich einer der bierbäuchigen Trainingsanzugshosenträger an. Mein Handy vibrierte. Textmitteilung. „Hüte Dich vor bierbäuchigen Menschen in Trainingsanzugshosen. Dörte. Hihi.“ Ich blickte mich um, sah Dörte auf dem Dach des Campo Dembowski eine große Lamaflagge schwenken. Und wenn ich genau hinhörte, vernahm ich den süßen Klang des costaricanischen Reggaes. Dörte hatte ihre Jah Rico-Platten mitgebracht fiel mir wieder ein.

Einer, in Adiletten, weißen Socken und einer kurzen Trainingshose erwies sich als der Anführer der Aufständischen. Er überzog mich mit wüsten Beschimpfungen, und fuchtelte mit Bierflasche und Kippe deutlich zu nah an meinem Gesicht.

Immer wieder schrie er: „Wir sind hier in Deutschland, mein Herr! Und wir hören deutsche Musik. Schaffen Sie diese Frau weg. Wir sind hier nicht bei den Hottentotten!“

„Atemlos durch die Nacht“, schrien die Herumstehenden im Chor und er wiederholte: „Schaffen Sie diese Frau hier weg, und machen Sie Campo Dembowski zu. Hören Sie auf mit diesen Belästigungen!“

Ein anderer Kerl löste sich jetzt aus der Menge, tippte mir mit seinen grobschlächtigen Fingern an die Schläfe und goss mir sein Bier vor die Füße. „Los, Jesus! Lauf! Lauf über Wasser, Jesus.“ Jemand schleuderte eine Wasserflasche auf mich. „Mach Wein, komm mach Wein!“

Die Situation war einigermaßen aus dem Ruder gelaufen. Es war Zeit, Land zu gewinnen oder es war Zeit, etwas zu sagen. Dörte und das Campo Dembowski waren vielleicht noch 100 Meter entfernte, aber würde ich das Tor erreichen?

Ich sah Dörte, ich sah die Lamaflagge und ich hörte Jahricio. Costa Rica, dachte ich. Costa Rica. Na klar! Costa Rica.

„Das da drüben ist Dörte!“, sprach ich zu ihnen. „Dörte ist Fachfrau. Dörte ist Lamafarmbetreiberin. Und wisst Ihr, woher Ihre Lamas stammen?“ Ich schaute in ihre Gesichter, sie waren leer, aber immerhin hielten sie jetzt ihre Hände ruhig.

„Dörte importiert die Lamas aus Costa Rica. Das sind die besten Lamas der Welt, die sind quasi dort zum ersten Mal überhaupt aufgetaucht. Lamas“, erklärte ich ihnen „sind einfache Tiere. Sie brauchen nicht viel, gerade nicht wenn sie direkt aus Costa Rica kommen. Sie grasen dort auf rund 27 % der Fläche. Schauen die Lamas in Richtung Osten sehen sie Karibik, und schauen sie in Richtung Westen sehen sie den Pazifik. Sie sind die weltläufigsten Lamas, die es auf dieser Erde gibt. Und erwähnte ich schon, dass sie die glücklichsten Lamas der Welt sind? Niemand nutzt sie als Transportlamas, sie sind Teil einer jeden Familie in diesem wunderschönen Land.“

Sie waren jetzt ruhig, und hingen mir an den Lippen. Und Jahricio sang. Ich spazierte weiter, und hörte den Anführer der aufständischen Einheimischen „Costa Rica! Das Land der Lamas“ sagen.  

Der WM-Außenseiter hatte mich rausgehauen. Abends, am Stammtisch, würden sich von den weltläufigen Lamas erzählen, und gegen die Itaker und Spagettifresser wettern.  Das konnte ich ihnen nicht austreiben.
Bis zum Anpfiff des Spiels blieb es ruhig. Costa Rica gegen Italien. Eine klare Sache. Pirlo, der beliebteste Weintrinker der Fußballwelt würde sie allein einmachen, da waren sich die Fachleute sicher. Wahrscheinlich hatten sie das Spiel der Mittelamerikaner gegen Uruguay bereits nach 40 Minuten weggeschaltet, anders konnte ich mir das nicht erklären.

Wenn es bei dieser WM der Überraschungen noch einen Außenseitertipp gab, dann war es Costa Rica. Auch wenn das weniger mit den Lamas zu tun hatte, die Dörte natürlich auch nicht von eben dort importierte hatte.

Wir saßen gespannt vor dem Fernseher, und hörten die Einheimischen ihre Parolen brüllen. Es war WM, es war Deutschland, und es war nicht auszuhalten. Aber wir hatten uns, und wir hatten das Campo Dembowski, dazu noch die Vorberichterstattung ignoriert.

Pirlo lupfte ein paar Pässe in die gegnerische Spielhälfte, er hauchte sie in Balotellis Lauf, der stolperte und wir sahen uns noch einmal an, wie Pirlo am Flügel steht, Balotelli beim Spielen zusieht. Es war beruhigend. Wie es eben auch beruhigend war zu wissen, dass Costa Rica hier nicht verlieren konnte. Sie waren das Team der WM.

Der Mainzer Junior Diaz gewann Mitte der ersten Hälfte einen unscheinbaren Zweikampf gegen Pirlo, und in der Zeitlupe sah man einen kleinen Blitz, eine kleinen Funken, der aus dem Körper des heiligen Italieners geradezu herausgeschossen kam. „Hast Du das gesehen?“ fragte ich Dörte. Und sie schwieg.

Kurz vor der Pause kam Junior Diaz am linken Flügel an den Ball. Kurz vorher noch hatte der Schiedsrichter Costa Rica einen klaren Elfmeter verweigert, doch jetzt hatte der Mainzer den Ball und sah auf, traf ihn perfekt und er segelte und segelte scharf in Richtung des langen Pfostens. Es war die perfekte Flanke. Die Krönung dieser WM. Die Renaissance der Halbflanke. Wieder einmal. Ruiz stieg hoch und traf. 1:0 für Costa Rica.

„Nie wieder Pizza, nie wieder Pizza“, sangen die Eingeborenen und wir drehten die Musik noch ein wenig lauter. Wir waren in Deutschland, es war WM und manche Dinge würden sich nie ändern.

Costa Rica gewann. England schied aus und am Abend vernichtete Frankreich die neutralen Schweizer. Was für eine WM! „Wenn nur die Menschen nicht wären, Dörte!“ „Dietfried, die Menschen gibt es überall. Und sie sind überall gleich. Manchmal verstehst Du sie nur nicht.“ Vielleicht stimmte das. 

Ecuador schlug Honduras 2:1. Bald würden die Boateng-Brüder gegeneinander spielen. Das Spiel, auf das ich seit meiner Rückkehr in den Soldiner Kiez hingefiebert hatte. Aufgeregt und glücklich schliefen wir ein. Dörte würde am Morgen abreisen. „Das ist Deine Welt“, sagte sie und ich küsste ihre trockenen Lippen.