Uwe wartete sehnsüchtig auf eine Elefantenherde, und lag mit seinem Tipp nicht verkehrt!
„Mexiko gewinnt 5:1 gegen Kamerun“, erzählt der 17-jährige zwischen zwei Selfies mit den ausgehwütigen Vorortschnacken. Sie sitzen neben mir in der Tram. Langsam bewegt sich der Zeiger in Richtung Mitternacht. War das gerade eben alles nicht passiert?
„Läuft“, erklärt er mir und zeigt zur Bestätigung noch einmal auf sein Smartphone, doch da sehe ich nur die Bilder. „Hey, hör auf! Auf dem nächsten Selfie spacke ich richtig ab. Aber krass das mit Mexiko!“ Wäre ich doch nur im Campo Dembowski geblieben.
Da hatte gerade eben doch wirklich die WM begonnen. Aber ich ziehe weiter, mache halt beim Zauberer, der mir vor Jahren einen ersten Einblick in die Welt der Berliner Konstrukteure geliefert hatte, bei dem ich mich auf den Showdown mit dem irrwitzigen Russen Komaroff vorbereitet hatte, und den ich ansteuerte, bevor es in der Kugelbahn zu einem Unglück kam. Zum letzten Spiel des Tages haben sich noch ein paar wenige Leute vor dem Späti versammelt, und warten sehnsüchtig auf den Anstoß.
„Auch so ein weißer Elefant. Überall weiße Elefanten. Ganz Brasilien ist voll damit“, erklärt mir ein älter Herr, der mich junger Mann nennt und sich als Uwe vorstellt. „Chile gewinnt 3:1, ein Tor fällt kurz vor Schluß.“ Er wird Recht behalten und die nächsten 45 Minuten „ah, oha, Australien, oh! Ah! Aha“ sagend, meinem Vortrag lauschen.
„Ich muss Dir was erzählen, Uwe. Ich habe den ganzen Tag nicht geredet. Ich muss jetzt reden. Also“, fange ich an. „In der Tram sitzen diese drei Jugendlichen neben mir. Nicht wirklich fußballinteressiert, aber es ist WM und sie schauen auf ihr Smartphone. „Mexiko gewinnt 5:1 gegen Kamerun“, erzählt der 17-jährige zwischen zwei Selfies. Das hat mich doch erstaunt. Das war ja anders. Hör mal zu, wie ich den Tag erlebt habe.“
„Aha. Australien! Oh. Tor!“
„Ganz bewusst verbrachte ich einen kompletten Tag ohne Nachrichten aus dem Campo Bahia, ohne Nachrichten von Cathy, die sicher wieder irgendwo einen super leckeren Soja Latte aufgetrieben hatte, und jetzt schon die größte Brasilien-Expertin aller Zeiten war. Immerhin hatte sie 2 Reiseführer von oben nach unten gelesen“, lege ich los und mein Art zu erzählen, kommt mir doch einigermaßen komisch vor.
„Keine Nationalmannschaft, kein Soja Latte, nur das Spiel, das Campo Dembowski, die Ruhe und ich. Das Campo Dembowski, eine Bretterbude am Rande der Stadt, hatte sich extra herausgeputzt. Ein paar Reiher kreisten über dem See, ein paar Eingeborene führten ihre Tiere spazieren und im Oderbruch trieb Rabea weiter ihr Unwesen.
Was zählt ist auf dem Platz, steckte mir noch vor dem Anpfiff der ersten Partie ein dahergelaufener Dachs. Ich war eins mit der Natur, eins mit Reihern und eins mit Ringelnattern, die es sich, auf Erdkröten lauernd, in einem abgelegeneren Teil das Campo Dembowski gemütlich gemacht hatten. Ich saß und schaute in die Wolken. Es wurde 17 Uhr, gerade schob sich eine dunkle Front über die Sonne, und der Wind wirkte ein wenig bedrohlicher. Ich trank die vierte Flasche Wasser des Tages und blickte auf den Spielplan.
Giovani dos Santos offside x2. WATCH: http://t.co/zqWXSznpnZ #MEXvCMR pic.twitter.com/MKlgNRwWQM
— Major League Soccer (@MLS) 13. Juni 2014
Kamerun mit Volker Finke gegen Mexiko, dessen Trainer aufgrund seiner Größe so liebevoll Laus oder auch mal „wilde Laus“ genannt wurde, wie sämtliche Organe der schreibenden und sendenden Presse nicht müde wurden zu betonen. Mexiko war nur mit viel Glück nach Brasilien gelangt, aber gegen Finkes Kamerun, die im Vorfeld des Turniers vornehmlich durch Spione und Prämienstreitigkeiten aufgefallen waren, würde es reichen. So war es. Trotz einer erneut befremdlichen Schiedsrichterleistung. Das Spiel zwischen Mexiko und Kamerun endete 1:0. Vorerst. Sag ich Dir, Uwe!
Weiterhin Ruhe im Campo Dembowski, weiterhin keine Nachrichten aus dem Campo Bahia, weiterhin nur das Spiel, das reine Spiel. Nie wieder Internet, schrie ich auf dem Dach der Bretterbude stehend in Richtung Stadtgrenze. Nie wieder Internet! Nie wieder Boulevard! Nur noch Fußball! Nieder mit der Unglückseligkeit!
Chap rief an. Chap reiste durch die Welt, er sah für mich die Länder, die ich nicht sehen konnte. Er traf für mich die Menschen, die ich nicht treffen konnte. „Da ist ein Krieg inmitten von Europa“, erzählte er mir. „Fröhliche WM noch!“ Chap war seltsam. Was hatte die WM, die sich, da war ich mir sicher, anschickte die beste WM aller Zeiten zu werden, mit einem Krieg zu tun? Und mitten in Europa. Ich verstand ihn nicht. Und legte „Nie wieder Krieg!“ schreiend auf. Das war mir Statement genug. Das sollte den Krieg beenden. Es war meine Online-Petition in Abwesenheit des Internets. Ein Roter Milan schoss zustimmend aus der Luft hinab und stieg, eine Ringelnatter im Schlepptau wieder auf. „Ööök, ööök, ööök“, kommentierte eine Erdkröte beglückt. „Nie wieder Krieg!“
An der Copacabana standen zu diesem Zeitpunkt die alten weißen Männer des ZDF zusammen und kommentierten. Ich sah nur ihre Gesichter, ich sah das Flackern in ihren Augen und neben ihnen tauchte auf einmal Beckenbauer auf. Diese neumodische Technik verstörte mich. Ich sah die alten weißen Männer, sah Beckenbauer und sprang vom Dach hinunter. Ich griff die Fernbedienung, drehte den Ton auf und hörte nichts mehr, den es ging bereits weiter mit der Neuauflage des 2010er WM-Finals.
Costa fiel, der italienische Schiedsrichter, der mir bereits im 2013er Champions League-Finale unangenehm aufgefallen war, entschied auf Strafstoß. Die 21. Zeitlupe bewies jedoch, dass er hier zweifelsohne falsch gelegen hatte. Alonso traf. Tikitaka mit echter Neun führte. Dann der lange Ball von der Mittellinie quer in Richtung 16er geschlagen. Der Laufweg van Persies, der Absprung, der perfekte Flugkopfball, dieser Blick in van Gaals Gesicht. Es hatte genau eine Sekunde gebraucht, um mich mit der WM zu versöhnen. Für diese Momente schaute man Fußball. Ein perfektes Tor, dazu die Renaissance der Flanke aus dem nichtmal-Halbfeld.
Many saying this was one of the most inventive goals seen at a World Cup. Van Persie at his best #WorldCup2014 #MUFC pic.twitter.com/WXGQJICgjG
— Kevin Palmer (@kpsundayworld) 14. Juni 2014
Pause! Endlich ein Bier. Das Tageslimit an Wasser war erreicht und hier gab es gerade eine taktische Revolution, dazu lag der Weltmeister in seinen letzten Zügen. Zumindest schwer angeknockt. Jetzt noch Robben, dachte ich. Robben, dieser verdammte Penner, der seinen Frust in Energie umgewandelt hatte, und der seit 2010, seit 2012 ein anderer Spieler geworden war.
Natürlich fiel Robben noch, aber das war bei diesem Turnier ohnehin egal, da die Schiedsrichter ihre Entscheidungen willkürlich streute. Natürlich nervte Robben noch, weil er immer unter Egoismus-Verdacht stand und dazu noch beim falschesten Club der Welt spielte. Aber dort, beim Stern des Südens war ihm eine Verwandlung gelungen. Schon einmal, kurz vor der WM 2010, war er einer der großen Spieler. Doch in den kommenden zwei Jahren zerfielen seine Träume. In den entscheidenden Spielen gelang ihm nichts. Und Neven Subotic musste ihm die Tränen aus dem Gesicht wischen. Das war jetzt anders.
Der Niederländer traf und traf. Gerade gegen meinen Verein. Subotic hätte sich nie vor Robben aufbauen dürfen. Das wird sich auch Iker Casillas gewünscht haben, als der Ball in der 53 Minute an ihm vorbei ins Netz fliegt. Vorher hatte der Flügelspieler den Ball wie Bergkamp 98 aus der Luft geholt, hatte die Verteidigung ausgespielt und stand dann da. Dieser Augenblick, dieser Wimpernschlag, der letzte Blick, die Schußbewegung, das wissende Lächeln. Eine ganze Welt sieht das Ende der Spanier wie in Zeitlupe vorbeischleichen. Und explodiert in den nächsten 40 Minuten vor Freude über das Ende der jahrelangen Qual.
Sensational! @FCBayernEN‘s Arjen Robben brilliant as Holland beat Spain #WorldCupByBundesligahttp://t.co/84iapCV2Tc pic.twitter.com/5czvJqN1Pl
— Bundesliga (@Bundesliga_EN) 14. Juni 2014
Tikitaka. Pass, Pass, Steilpass, Rückpass, Kurzpass, Pass, Pass, Pass, Fehlpass, Balleroberung, Pass, Pass, Lauf, Drehung, Rückpass, Querpass.
Vor dem inneren Auge zieht die vergangene Dekade vorbei. Ziehen all die Demütigungen, die man als Fußballfan hat ertragen müssen, vorbei. Es sind die letzten Momente bevor man ins Licht tritt, vor der finalen Erlösungen. Casillas stolpert. Van Persie trifft. Robben sprintet gegen jede menschliche Vernunft in der 80. Minute über den Platz und wieder bleibt er stehen, hält inne, überlegt, wieder Zeitlupe, wie damals in Wembley, wieder kriecht der Ball durch die Luft, nur um mit doppelter Geschwindigkeit im Tornetz einzuschlagen.
5:1. Die Niederlande hat 5:1 gewonnen, Uwe, nicht Mexiko, ich bin mir sicher. Wirklich!“, sage ich zu meinem neuen Freund als ich die Erzählungen meiner Abenteuer aus dem Campo Dembowski beende. Es ist Halbzeit. Chile führt mit 2:1, im ZDF wird Franz Beckenbauer reingewaschen, es erinnert mich immer mehr an den Telekom-Skandal im Radsport.
Beckenbauer: Riesenthema auch im brasilianischen Fernsehen. pic.twitter.com/2gDR6m44YN
— Nicole Diekmann (@nicolediekmann) 13. Juni 2014
Die Deutschen sind Meister der Schuldumkehr, bis es keine Schuld mehr gibt, die man umkehren kann, weil alle schuldig sind, und dann frisst sich die Aufklärung von Deutschland kommend durch das System. Jan Ullrich war gefallen, und so würde nun auch Franz Beckenbauer fallen, und mit ihm das gesamte Kartenhaus des deutschen Fußballs zusammenbrechen. Noch aber machten sie auf Wagenburgmentalität und lächelten die Anschuldigungen weg. Noch aber war WM und die hatte an diesem Freitag, dem 13. Juni 2014 im Vollmond begonnen.
„Uwe, morgen sind 4 Spiele!“ „Klar, Japan gegen Elfbeinküste! Chile gewinnt 3:1!“