Mehr brauchte es nicht, um glücklich zu sein. 


Was zum Teufel war eigentlich Glück und was bedeutete “Glück haben” schon?


Es war Sonntag, und nachdem am Morgen noch dunkle Wolken über dem Campo Dembowski geschwebt waren, wurde es heller und heller, zu den Abendspielen, zum letzten Dreierpack der WM schien die Sonne über den abgelegenen Sandstraßen rund um das Anwesen.

Der Aufstand der Einheimischen längst niedergeschlagen, Deutschland so oder so in der nächsten Runde. Nur die pessimistischsten Optimisten zitterten, und rechneten und rechneten und beim 1.000 Versuch fanden sie eine Wahrscheinlichkeit, die das vorzeitige Aus bedeuten würde. Da hatte die USA noch nicht gegen Portugal gespielt, da gab es noch wenige Beobachter, die hinter der nächsten Ecke bereits die Gijon-Verschwörung  V 2.0. vermuteten.

Natürlich gesellte ich mich in Gedanken zu dieser Avantgarde, und natürlich schwieg ich mich zu meinen Gedanken aus. Es war ohnehin niemand im Campo. Die Aufständischen lagen noch verkatert in ihren Betten, Dörte war zurück im Oderbruch, und ich hing weiter meinen Soldiner Kiez-Erinnerungen nach.

Es war früh, viel zu früh für einen Sonntag. Doch ich erinnerte mich nicht nur der Stunden in meiner alten Heimat, sondern auch der Stunden, die ich auf den Tribünen dieses Landes verbracht hatte, vom BVB mal weniger begeistert, dann mehr begeistert und später vollkommen erfüllt. Ohne Frage: Der Höhepunkt war und würde immer das 2012er-Pokalfinale bleiben.

Damals, erinnerte ich mich, draußen bei den Kranichen, unter meinem Baum gelehnt, lief ein todtrauriger Mario Götze in die Kurve, verweigerte sich beinahe den Feierlichkeiten, die vom längst vergessenen Mo Leitner über das Marathon-Tor getragen wurde.

Götze hatte zum Pokalgewinn wenig beisteuern können, schon gar nicht in der Endphase, in der er erst verletzt war und dann beim 5:2 Erfolg auf der Bank gesessen hatte. Er wirkte alt, so wie er auf mich immer unendlich alt gewirkt hatte. Schon bei seinem Debüt sah ich einen 35-jährigen, nicht einen 17-jährigen über den Platz laufen. Aber da in der Dortmunder Kurve wirkte er nicht nur alt, sondern auch noch einsam.

Vielleicht war etwas passiert, vielleicht war etwas zerbrochen. Vielleicht war er einfach nicht glücklich. Vielleicht fühlte er sich nicht ausreichend gewürdigt. Damals in Berlin. 2012.

Noch ein Jahr zuvor hatte er sich das Trikot nach seinem Sololauf gegen Hannover vom Leib gerissen. Er hatte sein Tor Dede gewidmet und war einmal über den ganzen Platz gelaufen. Der Dortmunder Junge mit seiner Würdigung eines ganz besonderen Spielers der Vereinsgeschichte. Alles hatte seinen Platz, und der BVB gewann wenig später, auch weil Götze gegen Hannover spät zum 1:1 getroffen hatte, die Meisterschaft, diese romantischste Meisterschaft aller Zeiten. Zumindest für mich. Denn ich war damals aufgewacht, in einer Erdgeschosswohnung in der Dortmunder Nordstadt.

Von der Wohnung war wenig übrig geblieben, die Dortmunder Nordstadt, der Affenmaskenmann, und der Big Boss am Borsigplatz längst vergessen. Jetzt saß ich hier im Campo Dembowski und dachte über das Glück nach.  

Mein Glück war mit den Konstrukteuren gekommen. Mein Glück hatte ich in einem Unterwasseraquarium in den Masuren gefunden. Von dort in den Soldiner Kiez, von dort zu Dörte, von dort auf die Lamafarm, von dort zu Koi, von dort in den Mobile Command Centre, und von dort ins Campo Dembowski.

Götze hatte 2012 bei der WM nicht spielen dürfen. Und war, nach einem Hackentrick in Fürth, bald nach München gewechselt. Es hatte niemanden überrascht, vielleicht ein wenig wütend gemacht. Jetzt war nicht nur etwas ihn ihm zerbrochen, sondern es war auch etwas um ihn zerbrochen. Er war alleine. Das größte Talent war jetzt auch das teuerste Talent und das müdeste Talent. Er war tired of all the hatin‘ und wirkte teils wie ferngesteuert. Seine Sätze wurden noch kürzer, seine Ansichten in ihrer Glätte noch radikaler. Indem er nichts von Bedeutung sagte, verschwammen bei ihm die Grenzen zwischen einer FIFA 14-Figur und einem echten Menschen.

Er jubelte nicht mehr, oder er jubelte, in dem er seinen Kopf in den Nacken legte. Er spielte nicht mehr, oder wenn nur eine untergeordnete Rolle. Es war keine Verheißung mehr, sondern wirkte wie eine Verschwendung, wirkte wie ein Symbol seiner Zeit. Er war die marketinggesteuerte Maschine, die immer noch perfekten Fußball spielen konnte, der jedoch so viel Hass und Verachtung entgegenschlug, dass er sich immer mehr zurückzog.

Wenn über ihn diskutiert wurde, verstand er die Diskussion nicht. Er war 22, hatte bereits 7 Titel gewonnen, und würde noch mehr Titel gewinnen. 2014 hatte er das erste bedeutende Finale seiner Karriere gespielt. Und jetzt stand er bei der WM in der deutschen Startformation, wurde von den ausländischen Medien, an denen die Verwandlung spurlos vorbeigezogen war, zum neuen Messi hochgeschrieben, und von den deutschen Medien kritisch beäugt. Als er seinen Kopf in den Nacken lege, und jubelte. Als er sich als das Geschenk Gottes präsentierte, wirkte er müde, wirkte er traurig. Es war kein Feuer in seinen Augen. Er jubelte so, weil er so jubeln musste, dachte ich, und fragte mich: Was ist Glück?

Man konnte bei dieser WM also durchaus schlecht draufkommen. Obwohl es auf dem Platz perfekt lief. Es waren großartige Spiele, wenn nicht gerade Geheimfavorit Belgien auf dem Platz stand, Algerien zeigte gegen verwirrte Südkoreaner, dass sie ein Spiel über 90 Minuten spielen können. Die USA verlor in der Nachspielzeit den sicher geglaubten Platz im Achtelfinale, und am Folgetag verabschiedeten sich die Spanier und die Kroaten. 108 Tore in 36 Spielen. Die meisten davor mehr als unterhaltsam.

Der mexikanische Trainer war jetzt der Star, die mexikanischen Reporterinnen waren jetzt der Traum aller und Brasilien bekam in Neymar den Superstar der WM, und interessierte weiter nicht. Ich war immer noch bei Götze, der mich im Campo Dembowski seltsam gefangen nahm. Vielleicht hatte ich das Glück gefunden und er nicht.

Ich musste raus. Aus dem Campo, raus aus meiner Welt, musste mich bewegen, musste etwas anderes als die WM sehen. Ich stieg auf das Dach und blickte in die Ferne. Für Minuten, für Stunden. Verharrte ich da und sah in den kalten, sommerlichen Himmel.

Mit einmal fiel mein Blick auf zwei Baumkronen zwischen denen ein Eichhörnchen hin- und hersprang. Von rechts nach links, von links nach rechts. Es schwang mit den Ästen und sprang, wenn es die ideale Position gefunden hatte.

Das Eichhörnchen beobachtete mich. Es fixierte mich und sprang und sprang und sprang.



Als ich später zwischen den Spielen den WM-Club nicht mehr ertrug, legte ich zur Beruhigung die 12. Klaviersonate Beethovens auf. Ich hatte das Fenster geöffnet, ließ meinen Blick über das Campo Dembowski schweifen. Es war ein schöner Ort. Ein stiller Ort, der dort in der Abendsonne lag und nichts als vollkommene Zufriedenheit ausstrahlte. Dörte hatte die Grenze mit ihrer Lamaflagge markiert. Ich erblickte das Eichhörnchen, wie es sich langsam auf mich zubewegte, mit flinken Sprüngen dem Fenster näher kam, einen großen Satz nahm.

Neben den Lautsprecher fand es mit gespitzten Ohren seinen Platz, aus seinem Blick sprach unendliche Melancholie. Ich nannte es Antoine.