Bevor Mario Götze seinen Kopf in den Nacken legte.


Als Mario Götze seinen Kopf in den Nacken legt, seine Arme ausbreitet und sich als ein Geschenk Gottes feiert, sitze ich in einem Hinterhof im Soldiner Kiez. 

Der Ermittler heute im Kiez, der ihn groß gemacht hat. Nicht im Campo Dembowski. Der Ermittler für einen Moment verwundbar, ohne Schutz. Der Situation ausgeliefert. In seiner Hood, auf die für diese 90 Minuten das Weltenscheinwerferlicht gerichtet sein sollte.

Aber die Straßen sind ausgestorben, in der Abendsonne schleppt sich eine alte Frau in den Spätkauf, legt abgezählte Centstücke auf den Tresen. Für 1.30€ bekommt sie einen Maschinenkaffee in einem braunen Plastikbecher und zwei Kippen. Sie drückt die Kaffeemilch auf, es knackt einmal und ein weißer Film legt sich über ihr Abendessen. Vor dem Späti lässt sie sich erschöpft nieder, und nippt an ihrem Getränk. Die Zigarette raucht sie halb, und kämpft sich in ihrem Hausfrauenkittel zurück durch die Abendsonne.

Wenige Meter von ihr stehen vier Jugendliche zusammen, einen Ball in der Hand und schmieden Pläne. „Wo schauen wir?“ „Lass ma zocken gehen, is besser.“ Während sie in Richtung Panke schlendern, schiebt sich ein Rollator ins Bild. Sein Besitzer lässt sich neben seinen Freund im Abendsonnenlicht nieder, sie trinken Wein aus einem Tetra-Pak.

Mit verlorenem Blick radelt jemand, eine Bierflasche in der Hand, vom Spielplatz auf die Straße, steigt ab und bewegt sich direkt auf mich zu. „Kannst Du ein Rad gebrauchen?“ Ich verneine. „Das trinken von Alkohol ist hier verboten“, verkündet das Schild der Bäckerei „Glück“.

„Hast Du vielleicht eine Luftpumpe?“  Doch die Sonne verschluckt seine Frage. Er verabschiedet sich, einen letzten Schluck aus der Flasche nehmend. An der Ecke Koloniestraß / Soldiner Straße tritt Jogi’s Co-Trainer in das Oldie-Eck. Das Bier vom Fass heute nur 1€, jeder Pfeffi 1€ und jedes Tor ein Freibier.  Zwei Jugendliche drücken einen Trinker an die Wand. „Ruf ihn an, ruf ihn an!“ „Es tut mir leid. Das habe ich gesagt.“

Deutschland-Radkappen rollen an einem Essien-Trikot vorbei und an einem Kiosk auf der Wollankstraße fragen sie mich: „Ermittler, kämpft die USA immer noch gegen Saddam?“ Durch die Scheibe einer Pizzeria sehe ich Messis Rettungsschuss gegen den Iran. Und in einem Hinterhof im Soldiner Kiez läuft eine junge Frau an, und rollt eine Wasserballbowlingkugel.  

In einem Hinterzimmer geht ein Zettel rum. „Deutschland gewinnt 5:0“, sage ich und die mit dem Undercut trägt  es ein. Alle bis auf den Arbeiter aus Siemensdorf tippen auf Jogis Jungs. „Ghana. Das wird was. Das wäre was für uns hier im Kolo-Kiez.“ 

In dem Kevin aufgewachsen, in dem George noch immer wohnt, erzählt der Postbote, der wieder aus Reinickendorf zurückgekommen ist, der jetzt auch immer hier ist. Im Hinterhof im Soldiner Kiez. Auf dem für einen Moment das Weltenschweinwerferlicht gerichtet war, und der einfach so weitermacht, bis sich die Stadt auch diesen Bezirk holt. Die Boateng-Brüder sind nach einer Stunde nicht mehr auf dem Platz.

Als Mario Götze seinen Kopf in den Nacken legt, seine Arme ausbreitet und sich als ein Geschenk Gottes feiern lässt, bin ich für einen Moment versöhnt. Trotz Götze. Und der Inszenierung namens Nationalmannschaft.