Die Wolken drückten schwer auf Berlin. Es war zwar Sommer, doch seit Tagen bereits machte sich diese Schwüle bemerkbar, die einem den letzten Verstand rauben konnte. In den Zeitungen berichteten sie immer noch über BER, über die beginnenden Bauarbeiten an der U6, über die langen Wege der S-Bahn-Benutzer in Friedrichshain. Blätterte man ein paar Seiten weiter, sah man das neue Logo des Ballspielvereins, oder zumindest das, was man dafür halten konnte. Auf der nächsten Seite fanden sich weitere Nachrichten zu Stadionverboten, die sich aufgeregt in die weiterhin schwellende, bald explodierende Pyrodiskussion mischten. Mein alter Kumpel Nerlinger, so berichteten bald alle Medien war die letzten Meter seines Weges gegangen. Noch während der EM waren er und sein Nachfolger Sammer sich am Warschauer Flughafen begegnet. Ein kurzes Händeschütteln, mehr nicht.

Piotr war immer noch auf der Flucht, was mit Tomasz und Winowski passierte, blieb weiterhin unklar. Sie saßen weiterhin in U-Haft, warteten auf ihre Abreibung. Komaroff zumindest war zufrieden, er hatte, so dachte er, mich ein für allemal erledigt. Doch der Lange stand davor. Nobby ‘Nobster’ G schickte mir aus Dover Bilder seiner größer werdenden Familie. Er vermerkte: „No longer a Konstrukteur. Some weird shit going on. Keep it up, legend!“. Dörte war bereits vor in den Soldiner Kiez, meine Sachen packen. Am frühen Dienstag würden wir nach Bralitz aufbrechen. Ein neuer Start im Oderbruch. Schon wieder ein neuer Start. Neustart. Ich hoffte, dass dies der letzte Neustart für eine lange Zeit sein würde. Menschen in Kneipen, so mehr ich über die Worte des Langen nachdachte, waren Teil meiner Erinnerung. Langsam fühlte ich mich bereit, meine Vergangenheit loszulassen.

Ich war diesen Weg zwei Meisterschaften und einen Pokalsieg gegangen. Und obwohl ich in all dieser Zeit spürbar näher an den Verein gekommen war, hatte sich echte Liebe irgendwann in Zynismus gewandelt. Mir war bewusst geworden, dass sich Zeit nicht würde stoppen lassen, dass sich meine Kritik totlaufen und dass sich mein Geisteszustand dadurch nicht verbessern würde. Als mir Dörte vor einer Woche am Oberuckersee erschienen war, hatte ich mich zum ersten Mal seit Jahren in meiner Haut wohl gefühlt. Auch wenn Dörte es vielleicht nicht spürte und ich es sie auch nicht spüren lassen konnte, war sie meine Rettung. Wie hätte ich ohne sie reagiert? Ich wäre nach dem Abend im Oldie-Eck nicht einfach für ein paar Tag in Tegelort abgetaucht. So viel war mir klar. Wahrscheinlich hätte ich weitergetrunken, versucht meine Probleme auf meine Art zu lösen. Ich wäre frontal in den Crash gelaufen.

Den Westhafen erreichte ich überpünktlich. Ich stand auf der Brücke der A100, blickte noch einmal auf die Hafengebäude, sah den langsam heimkehrende Ausflugsdampfern nach, beobachtete die Angler auf dem kleinen Uferabschnitt zwischen Stadtautobahn und Klinikum. Das alte Lokal auf der Brücke zerfiel immer mehr, ein paar Meter von mir saßen ein paar Trinker und zockten im Lärm der Stadtautobahn Karten. So weit ich es einschätzen konnte, stammten sie aus Polen. Ich spazierte zu ihnen herüber. „Was spielt ihr da?“ „1000er!“, antwortete mir einer. „Habe ich auch immer gezockt. Damals am Petroleumhafen in Dortmund.“ Doch für meine Sentimentalitäten hatten sie keine Zeit. Sie blickten mich nicht einmal mehr an. Ich stieg hinab auf den Uferweg, passierte die Angler, kämpfte mich durch die Büsche, die hier unbeachtet wucherten und erreichte pünktlich um 19.09 Uhr die Haltestelle Westhafen.

Amok und Redermann stiegen da gerade die Treppe von der U9 hoch. „Berlin! Wie hältst Du es hier nur aus, Dembowski?“, blaffte mich Redermann gleich an. Ich umarmte ihn, umarmte dann auch Amok, der sich peinlich berührt wegdrehte. Ich musste es kurz machen. „Lass uns einen Moment spazieren, ich habe wenig Zeit. Dörte wartet. Wir wollen weg.“ Sie blickten mich an. „Und dann?“ „Ich will es Euch erklären!“

Während wir noch ein paar Meter am Nordufer entlang gingen, uns für wenige Minuten auf einer Bank am Kanal ausruhten, Amok die mitgebrachten Kronen öffnete, erzählte ich von meiner Erschöpfung, von meiner Enttäuschung. „Ich habe wirklich gedacht, dass wir was ändern können. Wir haben es in der Hand gehabt. Aber die Karten, die wir spielten, waren gezinkt. Es ist nicht möglich, gewisse Prozesse zu stoppen. Es ist nicht möglich, sich gegen dieses Geschäft aufzulehnen. Es war nicht nur der Widerstand aus den anderen Reihen, der das unmöglich machte. Auch die uns eigentlich Wohlgesonnenen haben sich gewehrt. Alles wird eskalieren. Und ich möchte nicht im Feuer stehen, wenn die Flammen überschlagen. Alles ist sinnlos. Es ist ein sinnloses Hochschaukeln! Alles wird eskalieren. So sehr wir uns auch dagegen stemmen. Alles wird eskalieren. Und auch wenn alles eskaliert, das ist das wirklich Schlimme daran, wird es mich nicht interessieren. Ich will mich einfach nicht mehr dagegen stemmen. Ich will ein Garten voller Bienen, die sich an meinen Blumen laben. Ich will Vogelbeobachtungen und lange Spaziergänge. Ich will Dörte. Und das Beste ist: Dörte will mich. Um es kurz zu machen: Kümmert Euch um DerSamstag! Holt ihn irgendwann zurück. Passt auf, dass aus echter Liebe nicht echter Schmerz wird. Und bewahrt Ruhe, wenn um Euch herum die Hysterie weiter Fahrt aufnimmt. Manchmal muss man nur ein Stück zur Seite treten, um die Situation richtig einschätzen zu können. Ich aber, Amok. Ich aber, Redermann. Ich aber bin raus. Macht es gut. Alles ist gut! Ihr hört von mir!“

Amok schwieg, Redermann schüttelte den Kopf. „Du wirst wissen, was Du tust. Verstehen muss ich es trotzdem nicht. Pass auf Dich auf, Dembo!“, sagte Redermann. Amok schwieg weiter. Ich stand auf, rannte die Treppen hoch. Immer schneller. Kein Blick zurück. Nicht jetzt, nicht in diesem Moment. Ich rannte bis ich die Seestraße erreicht hatte. Sprang in die nächste Tram. Als ich aus dem Fenster blickte, hetzte ein Junge um die Ecke.

ENDE