Schill hatte eingeladen. Kleine Runde. „Bis in den Sonnenaufgang“, hatte er gesagt. Länderspiele waren nicht mein Fall, Einladungen in eine Kneipe schon. „Auftrag übernommen“, rief ich ihm zu, während ich am Nachmittag ein wenig durch den aufgeregten Kiez lief.

Tags vorher hatte Bezirksbürgermeister Christian Hanke die Ankunft einiger Flüchtlinge angekündigt. Sie würden in die leerstehende Schule in der Gotenburger Straße ziehen. „Das kommt einigermaßen überraschend“, hatte Hanke auf dem Soldiner Kiez fest gesagt, und ein paar Leute in Aufregung versetzt. „Was ist, wenn die uns aufs Dach steigen?“, hatte mich am Samstag noch jemand im Präbel Eck gefragt. „Und was ist, wenn ich aufs Dach steige?“, hatte ich zurückgefragt.

Hanke war überrascht, der Kiez aufgeregt, und das Ende des Sommers zog sich weiter raus. Ich schlenderte, hielt mal hier, und hielt mal da. Das Leben war eine Freude. Wie so oft. Mit Vergnügen dachte ich an den Coach und Hagenberg-Scholz. Dieser Klugscheißer, dachte ich und zog weiter ziellos in Richtung Westen.

Im Kopf ging ich noch einmal die Aufstellung der Borussia durch. Die Zukunft lag weit offen vor der Mannschaft. Reus, Reus, Reus. Jetzt noch verlängern. Der zweite Leuchtturm und er leuchtet in den schönsten Farben der Welt.  Die Sonne stand hoch am Himmel. Die Leute waren aufgeregt, und ich glücklich. Schill kam mir gerade recht. Wieder was trinken, Fußball schauen, gegen Götze pöbeln. Er hatte es verdient. Er lachte mich von einem Kiosk an. „Mein neues Gadget“, verkündete die Bildunterschrift. Er war ein WM-Held, und er war verloren.

Schnell vorgeglüht. „Wo, wo soll ich nur hingehen? Ne Wohnung habe ich nicht! Am besten in die Kneipe, da besaufe ich mich!“ Schlachtrufe BRD II! Fenster auf. „Wir haben unsere Träume,  und das ist wichtiger als Geld!“ Unten versammelten sich wieder die Menschen. Es war Sonntag. „Keine Musik!“, schrie einer, und der Rest spuckte auf den Bürgersteig und schwieg.

Mit dem richtigen Pegel runter in die Kneipe. Die Menschen hatten sich verzogen. Irgendwo anders gab es neue Aufregung, da zogen sie hin, da zogen sie immer hin. Schill ganz klassisch im Bademantel. „Komm gerade vom See! Jetzt aber Schotten dicht!“ Die Rollladen gingen runter. Wir waren 5. Schill, Dembowski, die Hagenberg-Scholz-Bande und Sebastian Machels, Deutschland-Trikot, vierter Stern, Schweinsteiger auf dem Rücken, neu im Kiez weil „Neukölln jetzt doch zu hip ist“.

 „Neulich beim Dreh ist mir was…“

„Vier Gefühl“, sagte ich und Medienvogel dachte ich, zapfte mir erstmal ein neues Pils. Offene Bar. Ich liebte Bademanteltage im Soldiner Eck. Die Hagenberg-Scholz-Bande verstand sich auf Anhieb mit Machels. Justin verwickelte ihn ein Gespräch über die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung, der Medienvogel nickte, warf hin und wieder Stichworte ein.
Berenice erzählte von ihren Erfahrungen im Bundestag, und der Medienvogel nickte. „Du musst unbedingt mal was über die Zustände bei der Berliner S-Bahn machen. Schrecklich!“ ereiferte sich und Machels fand das alles sehr interessant.

„Mega! Werde ich mal weiterleiten. Wir sind immer auf der Suche nach guten Geschichten.“

„Echt jetzt? Stark. Da muss man wirklich was machen.“

Justin war da schon in seine taktische Aufstellung vertieft. „Echt jetzt, Rudy? Der hat noch nie Rechtsverteidiger gespielt. Löw ist ein Spinner.“

Die Inszenierung beginnt. Und die Erde geht unter. Dann die Nationalhymnen. Flower of Scotland. Die Cories. A nation once again. In 10 Tagen, dachte ich. Und Justin schimpfte. „RTL erwähnt das Referendum mit keinem Wort, mit keinem Wort, echt jetzt!“ Und Machels: „Ich hätte das anders gemacht.“

Das  Spiel. „Hau ab aus unserem Stadion! Verräter!“ Justin, Berenice und ich bei jedem Ballkontakt. In der ersten Halbzeit hatte er 15. Machels war erbost, wollte uns tatsächlich in eine Diskussion verwickeln.

Ich trank, Justin erklärte. „Er hat uns verraten.“ „Er hat das Finaltor geschossen“, entgegnete Machels.
Die Diskussion verlief sich, das Spiel ging weiter. Götze bekam mehr Spielanteile, wir brüllten und schrien gegen das traurigste Kunstprodukt einer an Kunstprodukten nicht armen Generation. Schill schwieg. Machels stand auf, schlug gegen die Wand, zog an seiner Kette.„Ihr Schwachmaten! Wo warte eigentlich am 13.7.?“ Er wedelte mit seinem Finalticket. „Sonderflug nach Rio! Ab Frankfurt. Was habt Ihr für Euer Land getan?“

In mir kochten die Ereignisse vom 13.7. hoch, als Deutschland endlich wieder wer war und „Sieg Heil“ auf den Straßen zum gepflegten Ton gehörte. Das war nicht mein Land. Das war nicht meine Weltmeisterschaft. Götze spielte einen Fehlpass, Rudy schaltete nicht, Schottland traf. Aber Justin und ich hielten Machels in der Luft. Aus unterschiedlichen Gründen. Aber aus guten Gründen. Justin wegen Götze, ich wegen meiner Wut. „Einzelfälle!“, redete er sich raus, während seine Beine in der Luft baumelten. Er zitterte. Wir nicht. „Aber aber. Götze hat ein ganzes Land stolz gemacht.“ „Mich nicht,“ kommentierte Justin und erwischte mit einem Aufwärtshaken am Kinn.

„Reus liegt“, bemerkte Berenice entsetzt. „Nicht schon wieder. Der arme Marco.“

„Der ist kein Weltmeister“, entfuhr es Machels. Jetzt legten wir richtig los.