S-Bahnhof Beusselstraße. Ich stand auf der Brücke. Richtung Osten sah ich bis zum Fernsehturm, im Nordosten lag der Hafen mit dem alten Speicher, über dem Speicher die Flugzeuge im Landenanflug auf Tegel, die Currywurst am Kutschi konnte man bis hier hin riechen. Im Süden eröffnete die Beusselstraße den Weg in Richtung Moabit. Hinter mir donnerten die letzten Justiztransporte des Jahres in Richtung Alt-Moabit, unter mir fuhr die Ringbahn ihre Runden. Die letzten Gäste der großen Sylvestersause stürzten sich mitsamt ihrer Reisekoffer die Treppen hinunter. Ich stand auf der Brücke. Ein Kronen in meiner Hand.

In Richtung Westen verabschiedeten sich die letzten Sonnenstrahlen des Jahres, sie verfärbten den Himmel blutrot. Aus Moabit die Böller. Mein Kronen in der Hand bewegte ich mich die Beusselstraße runter. Nur noch die paar Stunden durchstehen, dachte ich mir. Mitternacht im Oldie Eck. Alles was ich will. Zurück in den Wedding. Doch da war noch etwas zu erledigen. Bei meinen Spaziergängen hatte ich die einsame BVB-Fahne ganz am Anfang der Beusselstraße gesehen. Ich hatte Redermann davon erzählt. Er hatte sich nicht lumpen lassen. Mit dem Kurier hatte er mir einen Kasten Kronen (Für Dich, Dembowski! Dein Redermann!) sowie ein signiertes Buch von Klopp (Für den mit der Fahne) zukommen lassen. Jetzt ging ich zu dem mit der Fahne. Ich hatte auch eine. Der Kasten würde kaum mehr für den Abend ausreichen. Zum Glück konnte ich den Rucksack nicht ganz befüllen. Für eine Weile blieb ich am Sex-Shop stehen. Niemand ging rein, niemand ging raus. Der Tegel-Bus fuhr menschenleer an mir vorbei. Niemand wollte aus der Stadt. Alle wollten in die Stadt.

Über die Straße. Die freundliche Bäckerei schloß ihre Türen. Die Spielcasinos schimmerten neonfarben im Abendlicht, im Laternchen saßen die ersten Neujahrstrinker. Manchmal in Adelaide. Ist praktischer. Das Jahr beginnt früher. Ich war noch nie in Adelaide, dachte ich und wenn alles normal läuft, werde ich da auch nicht mehr hinkommen. Es war dunkel, ich war blau, die Beusselstraße blickte dem Jahreswechsel mit neonfarbenen Leuchtschriften entgegen. Vor der Tankstelle machte ich halt, klingelte. Unten links. Die Totenkopffahne, die BVB-Fahne. Niemand öffnete. Ich nahm einen neuen Anlauf. Erst ein Kronen, dann die Kippen, dann ein Kronen und dann die Klingel. Die Tür gab nach. “Wer da?” “Ein Freund!” “Komm hoch, ich warne Dich!” “Ballspielverein Borussia aus Dortmund!” “Ein Freund! Warnung? Gab es nie. Komm hoch. Bier steht kalt!”

Ein großer, schwerer Russe öffnete mir die Tür. Man hörte es. Er kam nicht von hier. Ich überreichte ihm das Geschenk. Er nahm es, packte es aus. Er lachte. “Danke! Woher weißt…” “Die Fahne!” “Klar!” Draußen wurde bereits fleißig das neue Jahr begrüßt. Wir standen auf dem Balkon. Ich hielt mich am Geländer fest. Ein Wicküler in der anderen Hand. Der Russe hat es mir in die Hand gegeben. Er hatte Ähnlichkeiten mit dem Typen vom Rummel. Doch auch auf Nachfrage wollte er noch nie auf dem Rummel – und schon gar nicht zu Weihnachten am Alexa! – gewesen sein. Ich kaufte es ihm nicht ab, sah jedoch keine andere Möglichkeit als das Gespräch auf das Jahr der Borussia zu lenken. Wie ich diese Rückschauen hasste, wie sehr sie aber jedem Gespräch um den Jahreswechsel herum förderlich waren.

Die Menschen bedankten sich für ein Jahr. Die Menschen verfluchten ihr Jahr. Den Menschen war das Jahr gleichgültig. Doch bei einem Thema blickten wir alle mit Stolz und Freude zurück. 2011 würde unauslöschlich in der kollektiven Erinnerung der Dortmund-Fans eingebrannt sein. 2011 war das Jahr der Borussia. Als die Romantik für einen kurzen Moment den modernen Fußball besiegte und ein alienhafter Kevin Großkreutz vor der Südtribüne das Tempo angab. Wir würden den Traum nicht ewig träumen, das war uns allen mehr als klar. Aber wir hatten den Traum gelebt. Und er würde bei uns bleiben. Für immer. Sagte auch der Russe. Ich hatte die ganze Zeit nichts gesagt. Stand am Geländer, hielt mich fest. Und hörten seinen Worten zu, die genauso gut auch meine Worte hätten sein können. Miteinmal wußte ich nicht mehr, wo ich war. Von der Straße drang der Motorenlärm, in der Luft lag Schwefel, und ganz langsam schwanden mir die Kräfte. Der Russe blickte mich an. Er lachte. “Schlaf gut, Ermittler!”