Nachricht von Reiser. „Auf Malle, Produktionsteam wartet. Setz Dich in den Flieger. r.“ Was will er jetzt schon wieder. Kann Reiser mich nicht einmal in der Sommerpause in Ruhe lassen und seinen ganz eigenen Meisterrausch, mir fällt ein, der fehlt in meinem Tagebuch noch immer (merke: Tag 3 der Meisterfeierlichkeiten bei Gelegenheit nachtragen), in der Sonne der Balearen ausschlafen. Muss er mich mit seinen Nachrichten belästigen? Während ich mich von meinen Petroleumhafenträumen erhole, mit den Gedanken immer noch zwischen Herne, Meisterschaft und der City Of God pendel?
Er muss. Das ist mir klar. Habe ich schon kaum Freunde, so ist es um Reiser mit Sicherheit schlimmer bestellt. Ich erinner mich an die wenigen Situationen, in denen er mir sein Herz öffnen wollte, ich jedoch nur an einer neuen Runde interessiert war. Er hatte damals immer wieder angesetzt, mir seine Einsamkeit und seine Verzweiflung zu schildern. Ich wollte nicht zuhören. Es gab und gibt wenige Dinge, die mich weniger interessieren, als das private Schicksal von Jens Reiser. Mit Deiner Schreibe, hatte ich nur einmal zwischen zwei Schlücken geantwortet, hast Du genug zerstört, mein lieber Reiser. Er hatte nur schweigsam den Kopf geschüttelt und sich danach wieder dem Flipper zugewandt.
Dieser Reiser also, dessen Privatleben einer dem Verfall überlassenen Krankenhausruine im ehemaligen Zonenrandgebiet gleicht und dessen berufliches Schaffen mir über all die Jahre zuwider geworden ist, in dessen Klauen ich mich jedoch vor langer Zeit, notgedrungen, aber eben, begeben habe, belästigt mich an diesem Morgen mit einer Textnachricht. Ich drehe die Anlage lauter, Screamadelica macht heute meinen Tag, um die mitschwingenden vernichtenden Gedankenströme dieser Textnachricht abzulenken und im Idealfalle sogar auszulöschen. Doch auch Bobby kann es nicht verhindern. Ich schweife immer wieder zurück, ich muss immer wieder überlegen, was das für ein Produktionsteam ist und auch ob nicht ein paar Tage auf den Balearen meiner Existenz neues Leben, neue Bilder, neue Ansichten einhauchen würden. Antworte ich, antworte ich nicht. Bobby schreit es mir entgegen: “We wanna be free to do what we wanna do / And we wanna get loaded / And we wanna have a good time / That’s what we’re gonna do / No way baby let’s go” Wie oft war das der Soundtrack für die Tage mit Dörte, frage ich mich? Und komme auf keine Antwort. Klar, es gibt sie und ich weiß es auch. Aber Dörte ist nicht mehr. Nicht mehr hier, nicht mehr bei mir.
Jetzt ist Reiser. Und dieser Reiser, dessen soziale Integrität nicht nur den Strauss-Kahn-Verteidiger zweifeln lassen würde und dessen Berufstand zahlreiche Existenzen an den Abgrund und darüber hinaus gestoßen hat, schreibt mir an diesem Morgen eine Textnachricht und will mich zu einer Reise auf die Balearen überreden. Das Produktionsteam stünde bereit, es warte nur auf mich. Ich drehe die Anlage noch ein Stück lauter, nur die Wentraud, wenn überhaupt, könnte sich davon gestört fühlen. Doch niemand beschwert sich. Ich beschließe, ohne Antwort auszukommen. Den Rest des Tages verbringe ich mit Spiritualized und ein wenig Recherche.