Auch der Prince war zu lange gegen den Strom geschwommen, verschwand im Scheinwerferlicht. 


Als der Anruf kam, war sowieso schon klar, dass es nicht mehr lange weitergeht um das Campo Dembowski hatten die Herrschaft an sich gerissen. Manchmal saß ich noch vor der Tür. Beobachtete sie dann. Meist jedoch hielt ich mich im Hintergrund, schwieg, weil ich zu schweigen hatte und verzweifelte, weil ich zu zweifeln hatte.

Die Spiele gingen weiter. Löw brachte das Team auf Kurs, Brasilien zerfiel nicht einmal mehr in Einzelteile, sondern wurde vor den Augen einer erstaunten Weltöffentlichkeit zu Asche, zu Staub, zu Vergangenheit. Deutschland hingegen war ganz oben. Die Eingeborenen waren ganz oben. Und ich war ganz tief unten. Meine Strategie war fehlgeschlagen, egal, was jetzt noch passieren würde.

Ich ließ das Campo Dembowski verwahrlosen. Ich saß und starrte auf Bäume, sah nichts mehr. Sah keine Freunde mehr. Es waren bestenfalls Schmarotzer, die sich jetzt von mir abwendeten. Meine Idee, meine Hoffnung, mein Schaden. Sie hatten es schon immer kommen sehen, und ich hatte es schon immer nicht kommen sehen wollen, weil ich eine „zutiefst negative“ Person war, wie mir einer der letzten Schmarotzer vorhielt.

Nichts war geblieben. Niemand war geblieben, nicht einmal Antonine, das Eichhörnchen. Zu viel Show, zu viel Aufheben um seine Person. Er hatte immer in der Anonymität der Berliner Vorstadt verweilen wollen, sich nicht zum Gespött einer Bande von Eingeborenen der Randbezirke machen wollen.

„Schau da, ein Eichhörnchen! Der Ermittler ist durchgeknallt“, hatten sie sich zugeraunt, während ich trank und an meinem Selbstmitleid zerbrach. Wie so vieles zuvor, war das Campo Dembowski ein weiterer Fehlschlag. Darunter konnte ich es nun abhacken. Und sah dem Zerfall beim Verweilen zu. Es würde dauern. Der Ligastart war fern. Die Lamafarm war fern.

Diese war von Rabea in Beschlag genommen, die von dort ihre Lifestyle-Reportagen sendete. So berichtete mir Dörte bei einem ihrer seltenen Besuche im Campo. „Die ist irre. Wirklich irre“, hatte Dörte gesagt und ich nicht einschätzen können, was irre in diesem Fall wirklich bedeutet. Irgendwas. Rabea, so trug mir Dörte zu, berichtete also Live aus Brasilien, und hatte auch schon den einen oder anderen Skandal provoziert. Ihr wurde Bedeutungslosigkeit vorgeworfen. Sie wurde zu „die Medien“ und diese, das wussten wir alle seit langer Zeit, waren bedeutungslos, durch das Internet nahezu obsolet geworden.

Rabea machte einfach weiter, und es interessierte mich nicht, was sie da trieb, und wem sie etwas erzählte. Sie war eine Randnotiz, so wie das Campo Dembowski eine Randnotiz war. So wie Fußball eine Randnotiz war.

Alles war eine Randnotiz. Aber wenn alles eine Randnotiz war, was war dann keine Randnotiz?

„Sie ist jetzt weg!“

Sagte Dörte am Telefon. Am Tag vor dem Finale.

„Nach Brasilien. In Rio ist es sicher, hat sie gesagt. Die Kamerateams sind weg. Die Kulissen sind weg. Ein paar Kaffeebecher liegen hier noch rum. Sie fand die Lamas toll, hat sie gesagt. Und die Oder. Und die Fähre, hat sie gesagt. Echtes Campo-Feeling, hat sie gesagt und ist dann abgereist.“

Sagte Dörte am Telefon. Am Tag vor dem Finale. Als ich alleine im Campo saß und mir klar wurde, dass sie nicht vom Campo Dembowski sprach. Denn ich hatte versagte. Wenn es auch nur eine Randnotiz war.
Wie alles eine Randnotiz war.

Dann traf Götze. Ausgerechnet Götze.

Deutschland gewann. Weltmeister, endlich wieder wer. Sie zeigten es mir. „Auch so ein Wichser, der das Finale nicht gesehen hat“, riefen mir die Leute auf der Straße zu. Ich war auf dem Weg zurück in den Soldiner Kiez. Die Stadt war befreit. „Sieg Heil!“ schrien die Gruppen, traktierten die Vorbeilaufenden mit Tritten. Es war ihnen erlaubt, denn letztendlich durften sie das, hatte Götze nun ihre jahrelange Unterdrückung beendet.

Wir, die Deutschen, das auserwählte Volk, waren wieder wer.

Die Welt schaute auf Deutschland. Das Vorbild. Der Ermittler taugte nicht zum Vorbild.

Für einen Tag und zwei Nächte. .

Dann kam die Moralkeule.

Ich saß im Oldie-Eck. Ertränkte mein Selbstmitleid. Wie ich immer jedes Gefühl ertränkte. Gefühle machten mir Angst. Neuerdings auch Meinung.

Im Fernsehen lief der Empfang der Nationalmannschaft. Triumphal. Durch Berlin. Endlich eine Siegerparade! 

Das Gefühl war sicher unbeschreiblich. Auch im Oldie Eck. Wo sich die Leute Bier reinstellten.

Bei mir nicht. „Ermittler, was ist los?“, fragte mich Marion höhnisch und stellte mir noch ein Bier hin. Sie trug eines dieser Podolski-Werbetrikots, die sie zur WM 2006 verteilt hatten.

Auf der Bühne tanzten die Kids der Nationalmannschaft.

„Das können die doch nicht machen!“

Brüllte einer.

„Die verhöhnen einen Gegner!“

Brüllte sein Nachbar.

„Gauchogate!“

Marion.

“Wir sind Weltmeister!”
Ich.

Ein veritabler Skandal. Nicht nur im Oldie-Eck, sondern auch im Rest des Landes.

Einmal fragte ich ganz still: „Was ist mit den rechten Parolen?“

„Schnauze, Dembowski! Das lief nicht im Fernsehen!“

Keine Meinung zu haben, würde mir helfen. Und so diskutierten sie, bezogen Positionen. Mal im Internet, mal auf Titelseiten. Mal hier, mal da.

Sie mussten etwas sagen. Wie sie immer etwas sagen mussten. Es ziemte sich schon lange nicht mehr, ohne Worte zu leben. Sie befreiten. Von jeder Schuld.

Präsident Niersbach kündigte eine Entschuldigung an.

Dann schossen sie in der Ost-Ukraine ein Flugzeug vom Himmel, dann nahm auch die Sache in Israel wieder Fahrt auf.

Noch  mehr Meinungen, noch mehr Theorien, noch mehr Hass.

Einige Menschen gingen auf die Straße.

Sie trugen ihre „das wird man doch einmal sagen dürfen!“-Parolen durch die Städte. Erzürnte Reaktionen. Diskussionen. Meinungen. 

„Das darf man nicht mehr sagen!“

„Hoffentlich Krieg! Zeigt es den Russen!“

„Die Amerikaner sind schuld. Eine Verschwörung!“

„Israel!“

„Die Kinder!“

„Wir sind alle Juden!“

„Jetzt auch noch Schweinsteiger!“

„Er muss sich entschuldigen!“

„Hat er doch“

„Dann: Israel vernichten!“

„Der Islam ist schuld! Er will die Welt vernichten.“

Darunter ging es schon lange nicht mehr. Hysterisch driftete das Land auseinander, hysterisch drifteten die Kontinente auseinander, hysterisch ging der Anstand zugrunde. „Schreien Sie lauter, nur dann werden Sie gehört“, hatten sie uns beigebracht, und daran hielten wir uns jetzt. So mehr Meinung es gab, so radikaler wurde die Meinung, nur damit sie überhaupt noch eine Berechtigung hatte, nur damit sie überhaupt wahrgenommen wurde.

Immer auf der Suche nach Aufmerksamkeit, immer auf der Suche nach dem nächsten Mention.
Der Schrei durch die dunkle Nacht.

Die Wollankstraße. Bei Nacht. An der Ecke Prinzenallee verschwand Kevin-Prince im Scheinwerferlicht. Auch er hatte zu laut geschrien, war zu weit gegen Strom geschwommen. Verschwand. Die Welt schlief.
Für einen Moment. Bevor die nächste Welle über sie hereinbrach. Sie stand still. Und jemand klopfte mir auf die Schultern. „Mach Dir keine Sorgen mehr, es war nichts.“

Er verschwand in der Nacht.

Als die Welt aufwachte, war alles ruhig. Bis jemand etwas sagte, und jemand sich erregte. Und irgendwo jemand starb, und irgendwer einen Schuldigen suchte. Dann wuselte sie wieder. Eifrig. Pflichtbewusst. Sendebewusst.

Als der Anruf kam, war sowieso schon klar, dass es nicht mehr lange weitergeht.

„Für mich war das Brasilien-Spiel das beste Spiel aller Zeiten!“ sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung und schwieg danach für immer. Nicht mehr auf der Suche nach Aufmerksamkeit. Keine Meinung mehr.

Erhebt Eure Stimme. Benennt Dinge. Bald schon ist es zu spät. Dann könnt ihr die Dinge nicht mehr benennen, hatten sie uns zugerufen als wir noch klein waren. Transportiert Euer Wissen. Sammelt das Wissen. Gebt es weiter. Geschichte geht in Kreisen. Durchbrecht die Kreise. Brecht aus dieser Gegenwart aus. Bemüht Euch. Schaut auf Euch. Ihr seid wichtig. Ihr seid einzigartig. Das Internet gab uns dafür die Werkzeuge. Wir waren einzigartig geworden. Sobald wir nur radikal genug wurden, transportierte das Internet uns in andere Ecken.

Auf den Shitstorm warten. Aussitzen hatten wir gelernt. Darin waren wir groß. Wenn es einmal nicht gelang, dann gelang es nicht. Dann schrien wir noch lauter.  

Und ein weiterer ausgestreckter Arm verschwand unbeachtet im Meer der ausgestreckten Arme. Er war zur falschen Zeit gehoben worden. Timing ist alles.

Auf der Lamafarm schwamm Koi und erdachte sich ein Schiff. Ein Lama lachte mir zu. Ich war geschlagen, verletzt, unfähig, auf Veränderungen zu reagieren. Ich schwieg. Und würde nicht stärker als denn je zuvor zurückkommen. Ich hatte es satt. Nicht das Zurückkommen, nur den „stärker denn je zuvor“-Teil. Stärker, lauter, hysterischer.

„Ich werde einfach hier sitzen“, sagte ich zu Koi, der langsam abtauchte und das „und warten“ nicht mehr hörte.

Worauf ich wartete, war mir nicht klar. Doch ich würde meinen Arm nicht mehr ausstrecken. Untergehen würde ich auch so.

„Wir sind nichts. Wir sind ein Tropfen. Wir sind schwach. Und wir werden nie stark sein“. Dörte nickte. Später saßen wir mit der Gitarre auf der Veranda. Und sangen „Hey, bist Du auch Kürbis?“ Die Felder waren still, von der Oder nahmen wir nichts wahr. Die Lamas lagen faul im Gras. Der Traktor bewegte sich nicht.

Wieder einmal starb DerSamstag!