Es fällt mir schwer, weiter über diese Zeit hier unten zu schreiben, sie zu reflektieren. Meine Träume kehren zurück, aus einem prügelnden Jens Lehmann werden Fontänen in Atlanta und immer wieder fallen Tagträume über mich her, die mich in einem unbedarften Moment mit voller Wucht erwischen. Dann ziehen Bilder längst vergangener Tage und längst verlassenerer Orte in mir auf und ich ziehe durch Straßenzüge, spaziere an Promenade, erklimme Berge und wache an einem Bergsee über das Schicksal der Wanderer.
Die Gedanken an die Nordstadt, an die Erdgeschosswohnung, an die Nordstadt und auch an die wunderbare Saison der Borussia jedoch werden mit der Zeit weniger. Es ist, als käme meine Erinnerung an mein vorheriges Leben wieder durch, als schlummere unter der zerbrochenen Oberfläche immer noch die Person, die ich vor Jahren gegen mein neues Ich eingetauscht habe. Diese Psycho-Spiele bereiten mir ein wenig Sorgen. Ich erinnere mich an die Worte von Piotr, der mir unmissverständlich klar gemacht hat, dass der Weg zurück nur über eben diese von mir so in den Hintergrund gerückten Orte führen kann.
Bis dahin werde ich weiter träumen, weiter von meiner Erinnerung eingeholt werden und darüber vielleicht zu einer neuen Stärke finden können. „Wäre es nicht zumindest eine Überlegung, und zwar eine konkrete Überlegung, einmal über eine eigene Publikation nachzudenken? Es gibt genug Mittel und Wege, Deine Ermittlungen auf eigene Rechnung, und in der Folge eben auch die Ermittlungen Deiner ganz eigenen Wahrheiten über das Herz der Stadt, in der Du lebst, zu präsentieren. Wir könnten Dir Starthilfe geben. Du bist nicht abhängig von Reiser, Du bist nicht das ausführende Organ verzweifelnder Punkrockmailorder aus dem Norden der Republik und, das ist in der Zeit hier, und wir haben es Dir auch vorenthalten, untergegangen: Der Norden hat momentan ganz andere Probleme. In Deinem Land wird den Bürgern an jedem Tag ein Stück mehr das Essen verboten. Geht es so weiter, wirst Du in einen leeren Landstrich zurückkehren und wärst bereit für die Machtübernahme.“
Manchmal verstehe ich nicht, was Piotr mir sagen will. Wieso soll einer ganzen Nation das Verspeisen bestimmter Lebensmittel, und an jedem Tag soll das laut Piotrs Ausführungen ein anderes Lebensmittel sein, verboten werden? Auf welcher Grundlage sollte dies geschehen? Wieso lehnt sich niemand dagegen auf? Meine Gedanken wandern wieder fort, in der Schleife der Erinnerung bin ich jetzt an dem Ufer eines mir unbekannten Sees, über mir verlassen die Flugzeuge die nicht weit entfernte Stadt, neben mir liegt eine Bande Rocker, und in nicht allzu weiter Ferne sonnen sich, so wie Gott sie schuf, einigen Rentner mit Frau. Es ist kein angenehmer, aber ein seltsam vertrauter Anblick, neben mir liegt eine Sonntagszeitung, im See tummeln sich einige Jungfische und wenn ich ein Bad nehme, schwimme ich an kleinen Booten vorbei bis zu einer Insel in der Mitte des Sees.
Dort wartet Dörte auf mich, sie muss schon vor einiger Zeit auf die andere Seite geschwommen sein. Dörte hat eine Decke ausgebreitet, schließt mich in ihre Arme und reicht mir eine Schüssel mit Erdbeeren. „Für Dich, Dietfried. Wir werden immer hier bleiben. Die Freiheit ist unsere Zukunft, die Veränderung der Schlüssel zu ihr.“ Wir küssen uns, meine Hände berühren ihren Rücken, wir umschlingen uns, schauen den Rockern bei ihren Schwimmversuchen zu.
„Dembowski, wo bist Du schon wieder?“ Piotr schreit. Ich blicke ihn entrückt an. „Bei Reiser, bei der Weihnachtsfeier, als ich Gelsenborussen war, um an das Foto zu kommen.“ „Wo immer Du warst, und Deinem Blick nach, warst Du nicht bei den Gelsenborussen, mein Lieber! Du musst Dich an Deine Aufgabe machen. Du lernst heute das Monitoring. Wir haben einen Gesang kreiert. Diesen Gesang musst Du in soziale Netzwerke einspeisen und dann seinen Weg verfolgen. Es geht um Langerak! Du weißt schon! Der Goalkeeper from Down Under. Der Gesang geht so: „Langerak Ding Dong / Langerak Dingding Dong / Ooh Ooh Ooh / We’ve got a goalkeeper / he comes from down under / number 20 on his back / his name’s Mitch Langerak / he looks like a superstar / our goal-kee-paaaaaaaaaaaa / Ooh Ooh Ooh / I’ve got a goalkeeper…” Der Gesang wird zu Melodie von Rama-Lama-Ding-Dong gesungen. Diese Aufgabe wird Deine Kompetenz stärken. Uns wurde ein Video zugespielt. Das Video wurde während der Meisterfeier aufgenommen, zeigt einen unserer entrückten Konstrukteure, der sich nicht zu schade war, diese Aufgabe für Dich, und in dem Moment konnten wir mit Deinem zeitnahen Erscheinen keineswegs rechnen, in aller Sorgfalt vorzubereiten.“
Ich mache mich an meine Aufgabe, ich habe schon ganz andere Dinge erledigen können und virales Selbstmarketing ist nach Ärger sicher längst mein dritter Name. Nach einigen Stunden habe ich Kontakt in Richtung Down Under aufnehmen können, langsam breitet sich der Gesang wie ein Ehec-Keim aus und legt sich in immer größer werdenden Kreisen über den fünften Kontinent. Die Socceroos-Supporter sind begeistert, das Feedback ist einzigartig. Jetzt muss ich nur noch das Video abschicken, eine perfekte Arbeit, die den Gesang vielstimmig reproduziert, ihn der kompletten Südtribüne einverleibt und mit Aufnahmen der Aufwärmphase vor dem letzten Ligaspiel unterlegt ist. Eins muss man Piotr lassen: Er beherrscht seinen Job!