Doch natürlich, dachte ich auf dem Gartenteich kniend, würde ich diese Wahrheit, diese eine Wahrheit, die sich von den anderen Wahrheiten nur dadurch unterschied, dass ich und nicht eine andere Person sie aussprach, nicht bei meinem alten Karpfen Koi finden. So sehr ich mich auch nach Ruhe sehnte, so sehr trieb es mich immer wieder zurück in den Soldiner Kiez.
Zum Abschied blickte mich Koi noch einmal an. Es ist kein Problem, Koi, sagte ich, ich werde zurückkehren. Für Anfang nächster Woche hatte sich Dörte angekündigt. Lamas, hat sie mir geschrieben, sind am Ende des Tages ganz feine Tiere. Und Iquitos sei ein nachgerade verrückter Ort. Kein Wunder, dass die Konstrukteure diesem Ort am Wasser entsprungen waren. Wie schon so oft, malte ich mir Iquitos aus, ich sah mich, tief in ein Gespräch mit Piotr verwickelt, über Lehmstraßen an das Ufer des Amazonas treten.
Doch natürlich war ich nicht mit Piotr am Ufer des Amazonas, und, so kein Wunder geschah, würde ich in dieser Zeit nie mit Piotr am Ufer des Amazons stehen. Vielmehr konnte ich im Wintergarten sitzend, auf den Schneefall blickend, hinter ein Biegung des Weges die alte Oder erblicken. Zeit, zurück in den Kiez zu fahren. Dörte hinterließ ich eine Nachricht.
„Willkommen! Habe wieder an Koi gedacht! Auch an Dich! Melde Dich. Du weißt es: Dietfried!“
Mehr Sentimentalitäten wollte und durfte ich mir nicht erlauben. Ein Ermittler, schimpfte ich auf dem Weg nach Bad Freienwalde, darf seine Gefühle nicht zeigen. Das Ermittlergeschäft, dann noch im Fußball! Als V-Mann! Als Redakteur!, war ein hartes Geschäft, dass jede Schwäche unbarmherzig ausnutzte und gegen Dich richtete. Das war mir in den letzten Jahren mehrfach bewusst geworden. Wieder hörte ich Krieg & Frieden. Ich hatte genug Ruhe gefunden, um wieder auf Krawall gebürstet zu sein.
Was für wunderbare Aufgaben standen vor mir. Ein wenig mit den Rechten spielen, Berg weiter mit Informationen versorgen, Redermann am Telefon anbrüllen, beim Punktelieferanten Punkte bestellen, in der Kneipe Kronen trinken und zwei herrliche Auswärtsspiele sehen. Erst ging es gegen die kleine Borussia, dann gegen die kleinen Bayern.
Im Kiez herrschte wieder die ewige Hektik, die Trinker standen an ihrem Ort, die Dealer verkauften ihren Stoff, die zugezogenen Hipster aus Mitte fanden das alles „spannend“ und ich war glücklich, über das Dröhnen der Maschinen, die von Tegel in die weite Welt aufbrachen. In den Augen der Trinker spiegelte sich ihre Fernweh, ihre Sehnsucht nach einem anderen, nach einem trockenen Leben. Sie wachsen auf, sie sind nahezu ohne jede Chance, dachte ich die Treppe zu meiner Wohnung hochschreitend, sie wachsen auf, ohne jede Chance, dachte ich und schloss die Tür auf, sie fügen sich ihrem Schicksal und trinken in Bushaltestellen und einmal in der Woche gönnen sie sich den Luxus eines Gelages in der Kneipe. Sie wachen auf, sie zittern, dachte ich, sie greifen zum nächsten Getränk und werden ruhig. Sie sind, so dachte ich eine alte June Carter-Platte auflegend, auf eine andere Art Gefangene dieser Welt.
Carter sang, ich blickte auf die Trauergesellschaft auf der anderen Seite und stimmte ein
I was standing by my window, on one could and cloud day, when i saw that hearse come rolling, for to carry my mother away
Die Platte knisterte, ich öffnete ein Bier und las ein Kuba-Interview. Wenn er einmal gehen sollte, sagte er, habe er nur einen Wunsch. Die Fans sollten sich seiner erinnern und denken: „Er war kein schlechter Spieler“. Er war und blieb der große Melancholiker. In all seiner Zeit in Dortmund war er immer der große Melancholiker gewesen, nur einmal hatte er sich aufgelehnt, nur einmal hatte er, der immer mit den großen Vereinen Europas geliebäugelt hatte, seinen Unmut formuliert. Es war, so dachte ich das Interview noch einmal lesend, ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt hatte ich damals gedacht, dachte ich und nahm mir noch ein Bier aus dem Kühlschrank. Die Platte befand sich in der Auslaufrille und ich fand eine alte Lhasa De Sela 7“. Ein Cohen-Cover. Who By Fire, who by accident.
Vielleicht war es nur ein Zufall, doch nachdem Kuba sich aufgelehnt hatte, gab er auf einmal Interviews, spielte wie befreit und nur manchmal, wenn ihm danach war, blitzte seine alte Melancholie auf. Dann war er wieder der Junge aus Polen, den der Zufall nach Dortmund getrieben hatte, und der lange brauchte, um in seiner neuen Heimat anzukommen. Er war ausgezogen, via Dortmund einen großen Verein zu finden und als er lange genug dabei war, wurde er, ohne es zu bemerken, eine Dortmunder Legende, in einem jetzt großen Verein. In einem Verein, den er gesucht hatte. In einem Verein, der, obwohl er längst die Unschuld des ersten Meisterjahres verloren und mit seinen ganz eigenen Problemen zu kämpfen hatte, die Herzen der Menschen berührte. Auch dank Kuba , der wahrlich kein schlechter Spieler war. Auf Kuba, dachte ich einen noch größeren Schluck nehmend. Ich legte Born Slippy auf und war voller Vorfreude auf die nächste Woche.