“Kommst Du mit, wir gehen zum Haudegen-Konzert?”, fragte der Typ in der Bar. Schill sah ihn sich genau an. „Schöne Jacke. Freiwild, was?“ „Geile Band!“. Schill warf ihn raus. Es war Samstag. Dembowski gerade weg. Er wollte jetzt seine Ruhe haben.
Die Flaschen waren schnell weggeräumt. Jetzt noch ein Tee. Den Bademantel an. Und den Laden schließen. Das große Spiel gegen den kleinen HSV immer vor Augen. Ohne Adler, das war ihm klar. Ohne Van der Vaart.
„And after all you’re my wonderwall.“
Sie war wieder da. Dreadlocks. Gitarre. Wonderwall. Danach. Viel zu lange, mit Euch mitgegangen. Die Vorbotin der Hölle. Sie kam jetzt häufiger. „Neukölln zieht nicht mehr,“ hatte sie ihm bei ersten Mal gesagt. „Hilde, mein Name! Ich mache Musik. Für Leute. Sie sollen sich frei fühlen.“
„Halt die Schnauze“, schrie jemand aus dem Fenster, und gegenüber hatten sich ein paar Kids versammelt. Starrten sie an. „Was will die Alte?“ Sie war jetzt hier. Ließ sich auch nicht vom Eimer Sand aus der Ruhe bringen, der neben hier einschlug.
„Wenn Du Deine Träume lebst, wenn Dein Leben passiert“, hatte sie Schill gesagt, „musst Du Anfeindungen aushalten. Leben ist das was passiert, während Du träumst. Und, Baby, wenn wir alt sind, werden wir uns an diese Momente erinnern.“
„Mit Dir werde ich sicher nicht alt.“
Doch sie hatte sich nicht vertreiben lassen. Vor dem F, so erzählte sie, seien die Leute aufgeschlossener. Nur einer nicht. Dieser Justin, der sich im ersten Stock über der Bar eingerichtet hatte. Auch hier. Wüste Beschimpfungen.
„Lassen Sie unsere Familie in Ruhe. Wir wohnen hier.“
Und dann die Gespräche. Über „dit wahre Berlin“. Wie sich herausgestellt hatte, war Justin gerade nach Berlin gezogen. Aber er kannte es bereits besser als andere Menschen dieser Stadt. „Authentizität“, hatte er immer wiederholt, und die fünf besten Currywurstburden der Stadt aufgelistet, Hilde auch noch in ein Gespräch über die Flüchtlingspolitik Berlins verwickelt.
Hilde war schon länger in der Stadt. Die Wellen der Stadtentwicklung hatten sie durch die Bezirke gespült. Erst war sie vor den Schönhauser Allee-Arkaden, doch dort war nichts mehr los. Einmal war sie sogar im Fernsehen aufgetreten. Sie war die Stimme der Stadt, das Wort war auf der Straße. Danach ging es nach Kreuzkölln. Manchmal am Maybachufer, und am Abend vor den Kneipen. Sie hatte ein paar eigene Lieder im Programm. Die Wunder und Verwicklungen der Liebe. Sie war besser als Annette Louisan, und sah sich in direkter Tradition der Rockformation Wir Sind Helden. Von denen hatte sie Denkmal im Programm. Es gefiel ihr. Es war nicht zu schwer, aber transportierte doch eine sozialkritische Botschaft. Sie erinnerte sich, dass die Holofernes sogar einmal für einen Moment zugehört hatte. Es war eine der schönsten Momente Ihrer Musikerkarriere. 
Im Soldiner Kiez gab es noch keine Holofernes, und noch keine Musiker. Außer ihr. Sie hatte den Bezirk entdeckt.  Hier würde es abgehen, und sie würde ein Urgestein sein. Sie sah sich bereits in der Zitty. „Mein Kiez – Hilde Verdens erklärt den Gesundbrunnen!“. Wedding, hatte sie gelernt, sagte man seit der großen Bezirksreform Anfang des Jahrtausends nicht mehr. Da lag sie mit Justin auf einer Wellenlänge. Sie mochte die Aufbruchsstimmung auf beiden Seiten der Osloer Straße. Manchmal hörte sie jetzt mehr Englisch als Deutsch, sogar als Türkisch. Sie war dabei. Sie war die erste, die den Bezirk für sich entdeck hatte.
Justin hingegen war besorgt. Er sah die Heuschrecken über die Stadt herfallen, und niemand, der sich wirklich wehrte. Alle waren gleichgeschaltet. Wo war „dit wahre Berlin“. Er wollte es finden. Aber auch Hilde konnte ihm nicht helfen.
Die stand immer noch vorm Soldiner Eck. Schill hatte jetzt die Jukebox rausgeholt. Scooter gegen Hippies. „Ich muss sie übertönen!“, hatte er den Vorbeilaufenden gesagt. Und Hilde sang jetzt: „Ich werd die schlechtesten Sprayer dieser Stadt engagiern. Die sollen nachts noch die Trümmer mit Parolen beschmiern.“
Sie mochte dieses Bild. Sie strich sich durch ihre Stoppelfrisur, rückte ihre Brille zurecht und steigerte sich bis zum „hol den Vorschlaghammer raus“. Das müsste man mal machen, dachte sie sich an der Ecke stehend. Das wäre radikal. Und, Baby, wenn wir alt sind, werden wir unseren Enkelkindern davon erzählen. Wir waren radikal, wir hatten Träume und haben sie gelebt. Wir waren Diener unserer Träume. Immer. Als die Stadt noch radikal war, waren wir die radikalsten. Unsere Rebellion war einzigartig. „Hol den Vorschlaghammer raus“, haben wir gesungen und sind durch die Straßen gezogen. Mit den schlechtesten Sprayern der Stadt. Wir waren wild. Und jetzt sind wir alt. Und haben unsere Erinnerung, wir haben gelebt.

Ein Eimer Wasser leerte sich über Hilde. Und Schill, im Bademantel, eine Tasse Tee in der Hand haltend, drückte jetzt KLF. 3am Eternal. Hilde lächelte. Es würde eine langer Kampf werden, aber sie war auf dem besten Weg. Der Gesundbrunnen war ihre Zukunft. Und das Feuer in ihrem Herzen noch lange nicht aus.