Die Woche ging dann reichlich unspektakulär dem Ende entgegen. Sölden hatte mir den Besuch des Django Django Konzerts im Festsaal Kreuzberg nahegelegt. „Freitag: Django Django (nicht Asyl) im Festsaal X-Berg: Die Szene auschecken. Mach das. Gruß Sölden“ hatte er geschrieben. Ich kannte die Band nicht, youtube verweigerte mir Auskunft und ich war von Mittwoch immer noch mehr als platt. Leer. Da war nicht mehr viel. Die Erschöpfungsdepression nach dem großen Spiel. Das war mir wohlbekannt und insofern auch nicht von größerer Bedeutung.
Aber Django Django. Klar, der Name klang super und die „Szene auschecken“, wieso nicht. Aber die Szene würde auch in ein paar Wochen noch da sein und überhaupt hatte ich nicht mitbekommen, dass sie ohne mich bislang gravierende Probleme bekommen hatte. Die Szene, dachte ich, würde wohl eher an mir verzweifeln. Ein fußballverrückter, schwer alkoholkranker, meist am Rande der Depression schiffende Ermittler mit eigenen Spielregeln? Das, so dachte ich, würden sie kaum ertragen können, wenn auf einmal so ein Typ vor denen steht und sie doch wieder nur an Koks, Frisuren und Verschwörungstheorien interessiert waren. Das kannte ich aus Liedern, hatte es auf Platten gehört. Und was 1995 gewesen war, würde 2012 nicht anders sein.
Also in der Wohnung bleiben, einmal in den Discounter Ecke Soldiner, einmal die Polizeistreifen und einmal die Lichter der Prinzenallee, die im Novembernachtlicht noch trister daherkamen. Der Freitag war ein grauer Tag. Nicht nur in meinem Kopf, sondern auch da draußen. Kaum einmal, dass sich ein paar Gruppen fanden, die länger als zwei Sekunden beieinanderstanden, sich unterhielten. Es schien als hätte es niemals einen Sommer gegeben. Die Welt war grau und neblig, und so war ich. Über dem S-Bahnhof Wollankstraße durchbrachen die Scheinwerfer der Flugzeuge die Nebelwand, manchmal hörte man nur die auslaufenden Maschinen. Es war wie immer und ich fühlte mich wie immer. Dreckig und durstig.
Mit ein paar Flaschen Portwein machte ich es mir im Straßenzimmer bequem, rauchte ein paar Zigaretten, nahm große Schlücke aus der Flasche, sah die fahlen Lichter der Autos und die grauen Mäntel der wenigen auf der Straße verbliebenen Menschen. Hin und wieder streiften meine Gedanken den Mittwoch, doch meist war ich in einem anderen Land, zu einer anderen Zeit. Ich war Kerouac und unterwegs. Ich hörte Bebop und träumte von Ginsberg in Tanger. Von Tagen am Strand du von der großen Weite des Landes, das mich nach meiner Rückkehr mit Befremdung und Bewunderung empfangen würde, obwohl ich noch immer der Mensch war, der ich immer gewesen war und ich mich erst in ein paar Jahren, nachdem ich mich leer geschrieben hatte, nachdem ich meine Freunde ausgesaugt, ihre Geschichten zu meinen Abenteuern gemacht hatte, zu einem anderen Menschen entwickeln würde.
Ich war Kerouac und blickte doch nur über die Prinzenallee, die direkt vor meiner Tür in die Wollankstraße überging. Von Dörte hatte ich schon seit ein paar Tagen nichts mehr gehört. Ich traute mich nicht, den Hörer in die Hand zu nehmen und sie anzurufen. Sie würde meine Trunkenheit wie auch meine Einsamkeit erkennen. Diese Situation aber wollte ich unbedingt vermeiden. Ich war der große, der großartigste Ermittler, der eben in der Stadt sein Glück suchen musste, da ihm nur dort in der Großstadtkälte so etwas wie Herzenswärme möglich war, dachte ich am Fenster stehend. Ging ich aufs Land, wurde ich von der Herzlichkeit der Menschen derart erschlagen, dass ich mich verweigerte und zu einem Menschen mit noch dunkleren Gedanken wurde. Ging ich in eine Ruhrgebietsstadt, verzweifelte ich an den Menschen dort, deren Art ich lange schon nicht mehr verstand. Stand ich am Fenster meiner Wohnung im Soldiner Kiez, war ich ein Stück weit bei mir. Ich saugte die Einsamkeit der Menschen auf. Die machte es mir möglich, ihnen ein Stück Herzlichkeit zu geben. Und obwohl sie also dachten, dass ich ein okayer Mensch war, hatte ich sie erst beraubt und ihnen nur einen kleinen Teil zurückgegeben. Das machte sie, die sie den Raub nicht bemerkt hatten, glücklich und mir gab es die Kraft, die ich an anderen Orten nicht fand.
Anders als glücklich zwar, aber auch anders als zutiefst deprimiert, begab ich mich dann doch noch für ein paar Bier ins Oldie Eck. Düsseldorf gegen Hamburg. Auf dem Bildschirm aber brannten nur ein paar Zaunfahnen ab. „Die sollen die Schweine einsperren“, sagte der alte Mann am Tresen und über dem Banner stand „DFL-Papier ablehnen“. Zurück in der Wohnung schickte ich dem Punktelieferanten eine SMS.
Daumen hoch!