Und so wechseln sich Schlaf und Arbeit weiterhin ab. Es gibt keine Veränderung. Nur ein langsames Gleiten in die nächste Aufgabe, ein kurzer Moment der Ruhe, des Innehaltens und der Nachdenklichkeit. In der letzten Woche hier unten bin ich merklich ruhiger geworden, die Nordstadt ist aus der unendlichen Entfernung in diesem schwarzen Unterseeboot am Rande der Masuren nur eine blasse Erinnerung an eine längst vergangene Zeit. Eine Zeit, die für mich in diesen Tagen im frühen Juni 2011, verloren wirkt.

„Du wirst an den Ort zurückkehren und Du wirst Dich mit Deinen Dingen auseinandersetzen müssen. Du kannst nicht bei uns bleiben“, erklärt Piotr mir, nachdem ich ihm meine Gedankenwelt ausgebreitet habe. Meine traumatischen Erlebnisse könne er hier unten nicht heilen, er würde mich auf die Spur bringen, so Piotr, und er würde mir das nötige Werkzeug an die Hand geben, doch, erklärt Piotr, sei es nicht der Mensch, der die Dinge verändere, es seien immer seine Fehler, die eine meist unerwartete Entwicklung vorantreiben. „Wir lieben an den Menschen nicht ihre guten Seiten, wir erkennen in ihnen unsere Fehler und versuchen sie vor diesen meist fatalen Fehlern zu bewahren. Doch, wie alle hehren Vorhaben, so ist auch dieses Vorhaben von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die Fehler der anderen Menschen saugen Dich aus. Irgendwann ist dort dann einfach keine Liebe mehr und das Trauma beginnt von vorne. Die Erlösung findest Du an den seltsamsten Orten und die Erlösung von Deinem Trauma, Dietfried, wird Dich befreien und Dich in die Spur zurückbringen. Hier unten haben wir unsere Möglichkeiten. Doch Du bist lange noch nicht bereit.“ Wie immer blieb mir dieser Dialog Piotrs ein großes Rätsel, wenngleich meine Gedanken nun immer wieder um diesen Vorfall kreisten.

Tomasz schweigt weiterhin, verloren in den größten Anstrengungen, konzentriert auf mir unbekannte Ermittlungen. Als ich mich wieder an den Computer setze, erläutert mir Piotr meine heutige Aufgabe. Ich solle, weist er mich an, eine Autofahrt verfolgen. Vier Arbeiter auf ihrer Fahrt aus dem Baltikum zu einer Arbeitsstelle im Westen Deutschlands. Es ist eine unspektakuläre Fahrt durch Polen, durch den ehemaligen Osten bis eben in den Westen. Sie machen wenig Pause. Drei der vier Arbeiter haben noch Flaum an der Oberlippe, der Älteste redet die Zeit über wenig, hin und wieder betrachtet er ein Bild in seiner Geldbörse. Sie können sich auf der Autobahn kein Essen leisten und fahren hin und wieder in nahegelegene Supermärkte, kaufen sich dort abgepacktes Brot, ein wenig Wurst und ein paar Flaschen Wasser. Bei Magdeburg werden sie von einem Unwetter eingeholt und fahren von der A2 runter, für zwei Stunden passiert überhaupt nichts. Ich mache mir keine Aufzeichnungen mehr, schaue nur noch ab und an auf den Monitor und überlege, was hinter dieser Aufgabe steckt. Ich komme zu keinem Schluss.

Sie setzen ihre Reise fort und erreichen irgendwann das Herzen des Ruhrgebiets. Sie waren nun, so verrät mir mein Zähler, 2.157 km unterwegs und haben dafür 26 Stunden und 28 Minuten gebraucht. Jetzt betreten sie eine Wohnung. In einem der Zimmer stehen drei Betten, in dem anderen Zimmer steht nur ein Bett. Sie legen sich schlafen. Natürlich bekommt der schweigsame Alte sein eigenes Zimmer, bei den 3 jungen Balten vernehme ich noch ein paar erschöpfte Wortwechsel. Auch bei mir geht nichts mehr, ich reiche meine Aufzeichnungen bei Piotr ein, er legt den Ausdruck unbesehen in einer Schublade ab, die Mail verschwindet in seinem Ungelesen-Ordner. Hin und wieder zweifel ich an der Zurechnungsfähigkeit der Beiden. Tag und Nacht wechseln sich nur an der Oberfläche ab. Hier schläft man zwischen den Aufgaben. „Zwischen den Orten fühlen wir uns elektrisch. My body feels like a highway“, singt Thiessen und leitet in den warmen Abend über: „Wir werden diese Stadt verlassen, wir werden außer Landes gehen, wir werden unser letztes Feld entflammen und verbrennen sehen. Wir werden alles von uns geben. Unsere Hoffnung und die Angst verlieren. Wir lassen keine Spur zurück.“ Was passiert mit mir? Wo ist die Oberfläche? Ist es wichtig, nach unten zu dringen? Wieso steht Jens Lehmann im Tor der Gladbacher Amateure, ist auf einmal 19 und schlägt sich in der S-Bahn mit Johannes Focher und wieso antwortet mir nur Max Eberl?