Als ich die Stadt verlassen hatte und auf dem Weg war, fand ich endlich Ruhe. Ruhe, um meinen Plan auszuarbeiten. Direkt am Sonntag würde ich, dann wieder in der Stadt, einen ganzen Tag durch den Wedding und Reinickendorf ziehen. Irgendwo würde es Anhaltspunkte geben. Auch wenn Redermann mich noch in der Nacht einweisen wollte, so gab es für mich jetzt kein Weg zurück. Ich hing zu tief drin.
„Wäre ich in der Nordstadt geblieben, Redermann! Wäre. Wäre. Hättest Du mich nicht vertrieben. Face the facts. Bin jetzt weg. Und Du zeichnest dafür verantwortlich. Ich habe den Ringfinger in der Manteltasche, ich such den Menschen hinter dem K! Du hängst rum und redest mit Leuten. Genial! Der Samstag!? Wer trägt die Verantwortung? Ich! Was passiert? Nichts! Du machst nichts“ „Die Schuld abladen. Dein Ding. Dein Ding. Immer schon gewesen!“ „Kannst ja mitkommen. Als ob ich da Bock drauf hätte. Flutschfinger“ „Langerak, Ding Dong!“ Redermann war in dieser Nacht längst wieder jenseits von Gut und Böse und es sich in seiner eigenen Welt aus Amateurspielbeobachtungen, Gesprächen mit Spielerbeobachtern und anderen Unwesentlichkeiten eingerichtet. Schon lange. In aller Deutlichkeit ließ ich ihn das wissen. So schaukelten wir uns hoch. Immer neue Anschuldigungen, nur manchmal unterbrochen von einem „Langerak, Ding Dong! We’ve got a goaaaaaaalkeeepaaaaaa!“. Ich konnte es nicht mehr hören. Aber wir hatten dieses Monster auf der Meisterfeier geboren und nun konnte Redermann nicht mehr loslassen.
„Was ist eigentlich mit Hoppenheim?“, griff in Amok in die Runde ein. Wir saßen an der Theke, Alexandra besang ihren Zigeunerjungen und niemand interessierte sich für meine Geschichten. „In Berlin…..“ „Du nervst, Dembo. Ermittle mal lieber. Immer nur: Berlin hier, Ringfinger da. Es ging mal um Fußball, Dembo!“ „Genau. Und ihr kümmert Euch um Amateure und Attacken. Sicher besser. Voll besser, ihr Idioten! Auf ner Skala von 1 bis Idioten seid ihr 11“ „Immerhin kümmern wir uns, das hier ist nicht die Dembo-Ego-Show! Das hier sind die Konstrukteure. Falls Dus vergessen hast!“ Die Situation eskalierte. Sogar der Praktikant des ehemaligen Praktikanten mischte sich ein. Er war vielleicht 19. Ich hatte ihn noch nie gesehen. Er hatte nicht mit mir zu sprechen. Dieser Knilch! Ich habe diesen Knilch noch nie gesehen, dachte ich, wenn ich ihn schon gesehen habe, habe ich ihn sofort wieder vergessen, dachte ich. So egal ist er mir. Erst einmal hocharbeiten, dachte ich, der soll sich erst einmal hocharbeiten und dann werde ich ihm vielleicht antworten. Sie wollten mir nicht bei meiner Suche nach der Person hinter dem Ringfinger helfen, ich wollte nicht mehr mit den Dortmunder Konstrukteuren reden. Sie hatten sich gegen mich verschworen und de facto stand ich mit dem Rücken zur Wand. Zumindest in dieser Stadt hatte ich nichts mehr verloren. Sie war nicht mehr in meiner Hand.
Ich musste verschwinden, da war nichts mehr, was mich hielt. Nur einen Moment länger und ich gehe ein, dachte ich. Ich sah die Gesichter von Amok und Redermann. Sie waren mir fremd geworden oder ich war ihnen fremd geworden. Die Blicke waren leer. Ich wollte über den neuen Job von Jasmin Wagner reden und sie wollten mir was von Terrence Boyd, Defence Void erzählen. Hat ein Ermittler für mittelmäßige Viertligastürmer Zeit? Die Frage bedurfte keiner Antwort. Die Zukunft hatte längst begonnen. Sie würde ohne Terrence Boyd stattfinden, da konnte Redermann noch so oft von seinen Qualitäten schwärmen. Er hatte das Leitmotiv vergessen: Unsere Vergangenheit ist Eure Zukunft (ist unsere Gegenwart)! Ich erinnerte ihn daran. Leere. Ein großes Nichts. Bis vor ein paar Wochen war da was, jetzt war da nichts mehr. Leere. Redermann hat seine beste Zeit längst hinter sich, dachte ich. Der Held durchzechter Nächte hat den Verlust des Soulvans nicht verkraftet und jetzt schwang er sich zum großen Mann auf. Die Zukunft der Dortmunder Konstrukteure lag in seinen ungeschickten Händen. Ich musste verschwinden, da war nichts mehr, was mich hielt. Nur einen Moment länger und ich gehe ein, dachte ich. In den letzten 40 Minuten waren mir die Blicke von Amok und Redermann noch fremder geworden.
Während ihre Blicke mir also immer fremder wurden, während die Wirtin mir noch einmal von Wentraud erzählte und während ich versuchte, noch einmal in die Erdgeschosswohnung zu gehen. Nur um der alten Zeiten willen. Nur um vielleicht noch einmal auf Kleppo zu treffen. Während all dessen war ich in Gedanken längst fort. Zurück im Wedding, zurück in Reinickendorf, zurück bei diesem verdammten Ringfinger. Am Sonntag würde ich mir den Typ kaufen, daran hatte ich längst keine Zweifel mehr.