Die Menschen hingen ihm zu Hals raus. Seit langer Zeit schon.

Die Menschen hatten zu viele Meinungen, dummen Meinungen. Sie warteten auf ihren Untergang, und ließen sich verarschen. Denn eigentlich, dachte er, folgten sie der Herde, kauften das Gewäsch der Medien, trieben in der Hysterie blind daher, folgten mal diesem Hype, kommentierten mal dieses Gate, und verachteten die Kriegstreiber, die Regierungen, den Staat an sich, das System, die Polizei, die Konkurrenz. Wie es ihnen beliebte, er war anders. Schon immer gewesen. Er hatte eine Meinung.

Natürlich wollte er diese Meinung, diese seine eigene, und somit zutiefst wahre Ansicht der Lage der Dinge auch verbreiten, aber diese Menschen. Sie waren wie Lemminge. Er verachtete sie. Wie sonst nur die Medien, die schon seit langer Zeit inhaltslose Stücke Papier verkauften, sich in Online-Klickstrecken verkauften, immer auf der Suche nach der neuesten Hysterie. Egal, worum es ging, die Klickstrecken waren bereits vorher erstellt, die Zitate aus älteren Artikeln zusammengeklaubt. Manchmal verbreiteten sie ihre Ressentiments gegen Juden, Muslims, Behinderte und Schwule, das ging natürlich zu weit.

Vielleicht waren die Medien das große Übel unserer Zeit. Davon bekam er wenig mit, nur die Geschichten, die ihm im Netz zugetragen wurden. Meinungsstark. Diskussionswürdig. Er hatte noch nie etwas von Le Floid gehört, und dem täglichen Irrsinn des Privatfernsehens begegnete er mit Missachtung. Es interessierte ihn nicht. Diese Menschen, dachte er sich, blinde Lemminge. Was bringt ihnen das? Manchmal, denn es drückte ihm in, teilte er es mit. Sie reagierten mit Kopfschütteln. Das Öffentlich-Rechtliche war ein Trauerspiel, der Spiegel und seine Ableger längst Boulevard. Er wählte Die Partei, weil die auf Mißstände aufmerksam machte. 

Warum sagst Du das, fragen sie ihn. Weil es mich nervt, weil wir die Welt verändern müssen, antwortete er. Amerikanische Rockbands veredelten seine Tage, die er manchmal mit gedämpften deutschen Songwritern ausklingen ließ. So richtig begeistert hatte ihn schon lange nichts mehr. Die neue Gaslight Anthem war okay, aber was sollte man schon von der neuen Gisbert zu Knyphausen erwarten? Von dem war schon lange nichts mehr Bemerkenswertes erschienen. Er war über den Zenit. Es hing ihm alles zum Hals raus. Wirklich alles. Seit langer Zeit schon.

Auch der Fußball hatte sich verändert. Früher war er ins Stadion gegangen und hatte politisch korrekt geflucht, die Leute in seiner unmittelbaren Umgebung auf unkorrekte Flüche hingewiesen. Arschloch, klar, das ging. Schwule Sau, das ging nicht. Von der schwarzen Sau wagte er nicht zu sprechen. Unten auf dem Platz hatten sie geackert, gekämpft. Sie waren nahbar, der Profi von nebenan. Früher, noch früher, als er noch nicht ins Stadion ging, hätte man mit den Burschen ein Bier trinken können, dachte er. Doch der Erfolg hatte sie verändert, hatte den Verein verändert. Hatte ihn jedoch nicht verändert.

Sahin hatte er noch geglaubt, ihn sogar vehement verteidigt. Der Kagawa-Wechsel war ebenfalls verständlich. Er hatte ihm verziehen, doch der Japaner hatte seine Online-Petition ignoriert. Jetzt war er nur ein weiterer Profi, der, das musste er zugeben, zwei gute Jahre in Dortmund gehabt hatte, nun aber die Vergangenheit präsentierte. Götzes Abgang hingegen war ein Schlag ins Gesicht, aber natürlich, darüber würde er keine Postkarten nach Hause schicken. Lewandowski hatte sich sportlich astrein verhalten, und sein Management? Ob Borussia immer mit offenen Karten gespielt hatte?

Es war nur Fußball, es gab nur eine Feindschaft: Die mit den Fremdgesteuerten. Das aber konnte er ihnen nicht direkt sagen, und so fraß er den Ärger in sich hinein. Dann hörte er zuhause  wieder die neue Gaslight Anthem, denn die Dropkick Murphys waren ihm zu banal. Auf Gisberts Frühwerk ließ er nichts kommen. 

Das hörte er immer noch. Und träumt dabei von einer Welt ohne Klickstecken. Ohne Massenmedien, oder zumindest mit würdigen Massenmedien. Von einer Welt, in der jeder die Zusammenhäng verstand, und in der jeder für etwas einstand. 

Das machte ihn ganz verrückt, es ging nicht in seinen Kopf rein, allein die Gewissheit, dass sich so viele Menschen mit den Banalitäten des Alltags rumschlugen machte ihn verrückt. Justin Hagenberg-Scholz war ein rundum zufriedener Mensch. Wenn nur sein Vorname nicht wäre, wenn nur die anderen Menschen nicht wären. Sie passten ihm nicht. Und ließen sich hysterisch vereinnahmen. Auch die Süddeutsche, die er jahrelang als letzten Schutzschild gesehen hatte, verstörte ihn zunehmend.

Justin Hagedorn-Scholz stand am Fenster, neben ihm seine Frau Bereniz, die neuerdings im Bundestag arbeitete, und blickte auf die Grüntaler Straße. Unter ihm in der F-Bar saßen ein paar besonders laute Menschen. Irgendwie mochte er die Atmosphäre auf der Straße, doch auf seinen Streifzügen durch den Gesundbrunnen, nur die dümmsten Menschen sagten noch Wedding, hatte er gelesen, war es ihm noch zu dreckig. Die Sintis, die in der Casino Bar ihre Partys feierten, nahmen keine Rücksicht. 

Und der Rest spuckte Sonnenblumenkerne. Einmal hatte er einen schwarz gekleideten, vollbärtigen Typen getroffen. Er hatte sich als Dietfried Dembowski, Ermittler vorgestellt. Auch er war Borussia Dortmund-Fan. Das hatten sie gemeinsam, sonst war da nicht viel, dachte er. Er hatte auf gute Laune gemacht.
Bald würde die Saison wieder losgehen. Sein erste Spielzeit im Exil. Darauf freute er sich. Nur nicht auf die Menschen. Die, musste er sich eingestehen, verabscheute er. Sie hingen ihm zu Hals raus. Seit langer Zeit schon.