Seit einiger Zeit umgab sich Dembowski mit seltsamen Gestalten.
Der Mond stand tief über dem See. Am anderen Seeufer, ich konnte gerade noch die Umrisse der dichten Uferbewaldung ausmachen, bewegte sich etwas. Langsam stieg ein Gesang empor.
„Weinet, die ihr noch weinen könnt. Weinet. Beweinet die zwei Beinen hatten. Und haben jetzt nur eines noch. Weinet. Beweinet die zwei Augen hatten. Und eines ist jetzt tot. Weinet. Beweinet die zwei gute starke Hände hatten. Und haben jetzt nur eine Hand. Weinet.“
De Umrisse bewegten sich. Immer tiefer. Immer weiter in das Wasser hinein. Immer schneller. Immer direkter auf mich zu. Der Gesang wurde lauter. Ein Blitz zuckte über den See. Ein schwarzer Schleier. Ein schwarzer Habit. Die Gestalt kniete im Wasser, ein Trikot in ihrer Hand.
„Beweinet die ein Kind einst hatten. Ein schönes starkes gehegtes Kind. Und die es nicht behalten durften. Weinet. Weinet auch um die so noch sehen konnten als sie gingen. Und die jetzt nichts mehr sehn nur ihr Leid. Beweinet die nicht einmal gestorben sind. Die sich verloren haben und brauchten keinen Sarg. Weinet!“
Die Tür des Mobile Command Centers krächzte im Wind. Ich saß auf den Stufen eines Rettungsturms. Neben mir ein Batterie Mecklenburger Export. Mit einem Feldstecher beobachtete ich die Uferbewaldung.
Noch ein Blitz, ein klarer Blick durch die kalte, sternenklare Nacht.
Dort, nicht weit der Gestalt, am Rande der Waldung. Trikots: Gündogan, Hummels, Subotic, Blaszczykowski. Ich konnte den Aufdruck genau erkennen. Es waren die Auswärtstrikots.
Langsam bewegte sich die verschleierte Gestalt in Richtung Leine. Ihre Hände befestigten das Jersey mit der Nummer 6 direkt neben Gündogan. Die Tür des Mobile Command Centers knarzte, der Wind zweifelte, hinter mir zerbrach eine Scheibe. Mein letzter Balken wurde rot. Gleich war ich allein. An diesem gottverdammten Ort irgendwo im Norden des Landes.
Dann wieder Stille. Das Rauschen der Blätter. Der Gesang.
„Weinet Weinet denn ferne ist der gute Hirte gezogen Und der böse Krieg wütet in seiner armen einfältigen Herde. Weinet. Weinet denn man läßt die Lebenden nicht mehr leben- Und voll sind alle Friedhöfe und die Spitäler sind vol.l Weinet. Weinet denn wenn diese Zeiten vergangen sind. Dann grast das schwache Lämmlein: der Friede In rotem Grase nur (Nur rotes schlechtes Gras wächst für das arme unschuldige). Weinet. Weinet!“
Ein kurzer stechender Schmerz zog meine linke Schulter hoch. Noch ein Schluck gegen den Schmerz, noch ein Schluck gegen den Gesang. Das fünfte, sechste Export des Abends. Gelähmt. Am anderen Seeufer war es still geworden. Bremsen quietschten. War da gerade ein Wagen? In den See?
Mein Kopf wurde schwer, sackte auf meine Knie. Der Schlaf holt Dich sowieso.
Ich habe nichts gesehen. Im spitz zulaufenden Dreieck des Gästeblocks hat die Welle nach ganz unten gespült. Vor mir mache ich die Umrisse eines Chrome Export-Banners aus, ein 1.FC Köln-Schal, ein paar andere Fahne. Doch kein Spielfeld. Über mir erhebt sich der Capo mit sanfter Stimme. Und peitscht die mitgereisten Fans nach vorne.
„Und jetzt alle: Einhaken!“
Niemand hakt sich ein. Oder ich kann es nicht sehen. Ich nehme einen tiefen Zug, spüle den Rauch mit Bier runter.
Die Mannschaften müssen bereits auf dem Platz sein. Es ist still. Niemand sagt etwas. Schweigeminute für Hermann Rieger. Ein Schrei zieht sich durchs Stadion. „Sieg Heil!“
Er kommt aus dem Oberrang des ehemaligen Volksparkstadions. Der Block reagiert. Schreit „Nazis raus!“. Jemand ballt seine Fäuste! „Wenn ich das Schwein kriege.“
Aus dem Off kommentieren Allwissende: „Immer die Dortmunder! Eine Nazi-Bande!“ Und ein Chor antwortet: “Aber wir sind rein!”
Das Spiel geht los.
Der Block bemüht sich, der Capo noch mehr. „Und jetzt alle: Einhaken!“ Niemand hakt sich ein. Der Capo wirkt frustriert. Nicht mein Problem, aber mein Verein. Ich will ihn sehen. Ein Feuerzeug, ein kurzes Aufflackern. Das Loch, groß genug, um das Spielfeld zu sehen.
„Das war gar nichts. Das ist blamabel!“
Ein langer Ball auf den rechten Flügel segelt ins Aus.
„Genau!“ schreie ich. „Diese verdammte Einstellung! Kein Pass kommt an! Die sind in Gedanken schon in Gasmafia.“ Ich mühe mich, den richtigen Ton zu treffen.
„Halts Maul, Jesus!
Wieder jagt Sokratis einen Ball in Richtung Eckfahne! Und wenig später vertändelt Sahin einen Ball.
„Reißt Euch zusammen. Der Auftritt ist erbärmlich.“
Um mich herum wütende Gesichter. Drohende Fäuste den Block hoch.
„Wieso drehen die sich alle um?“ Fragend blicke ich meinem Nachbarmann an. Er antwortet mit Wut.
„Jesus. Halt’s Maul“ Der Typ, gerade noch mit der drohenden Faust in Richtung Oberrang, spuckt auf meine Lederjacke. Ich wische seinen Auswurf in einen Taschentusch. Drücke es ihm ins Gesicht. „du hast da was verloren.“
Jubel!
Der Stadionsprecher ruft Hamburg 1 Dortmund 0. Und ich nach Hilfe.
Doch niemand hört meine Schreie. Ein paar der Jungs decken mich mit Schlägen ein. Meine Wunde am Kopf platzt auf.
„Jungs, das war schon besser!“ ruft der Capo. „Gemeinsam schaffen wir das hier!“
„Und der ist für die Kreuzigung. Und der für Deine Fragen. Und always look on the bright side of life!“
Sie lassen mich liegen. Für einige Zeit. Als ich wieder zu mir komme, ziehe ich mich an den Stäben des Käfigs hoch. Die Anzeigetafel zeigt Hamburg 2 Dortmund 0. Die letzten Minuten laufen. Bender ist nicht mehr dabei, Lewandowski, Großkreutz auch nicht.
„Klopp schont die sicher!“, versuche ich den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen.
„Wieder wach?“ Jemand hält mir ein Bier hin. „Hast Dich gut gehalten, Jesus! Aber zwanzig gegen einen, bis das Blut zum Vorschein kommt. Keine Chance!“
Gerade schlägt es weiteres Mal ein. Nicht in meinem Gesicht, sondern hinter Weidenfeller, der quer in der Luft liegt. Wahrscheinlich direkt vom Anstoß.
Auf jeden Fall segelt der von Calhanoglou getretene Ball minutenlang in Richtung Tor, bevor er sich noch einmal dreht. Die Dortmunder Spieler stehen aufgereiht zusammen, schauen beschämt auf den Hamburger Boden. Es muss vom Anstoß sein. Aber Hamburg 3 und Dortmund immer noch 0. Endlich ist es vorbei. Ein Dino spaziert durch mein Blickfeld.
„Komm nie wieder, Jesus!“, zischt mir der Capo ins Ohr, während mir jemand von hinten die Hände umdreht. Und mir Wasser ins Gesicht spritzt.
„Mein Herr, was machen Sie hier?“
Am Ostufer des Sees ging langsam die Sonne auf. Ein ruhiger klarer Morgen. Es fröstelte mich ein wenig. Mein Kopf dröhnte. Mein Rücken war steif. Mir fiel es schwer aufzustehen.
„Sagen Sie mir, wo ich bin. Dann sage ich ihnen, warum ich bin.“
„Ich habe den Campingwagen gesehen. Etwas ungewöhnlich in dieser Jahreszeit. Aber vielleicht noch ein Angler, habe ich mir gedacht. Früher Vogel fängt den Wurm. Da habe ich die Spuren im Sand gesehen. Von hier oben angelt ja niemand. Nehmen Sie das, Sie haben ja schwer getankt.“
Sein Blick streifte die leergetrunkenen Mecklenburger. „Ist überhaupt ein schlimmes Gesöff. Nehmen Sie das.“ Er reichte mir eine Tablette. Wieder durchzog ein Schmerz meine linke Schulter. Was würde ich für ein Schluck gegen die Schmerzen geben?
Doch während ihm seine grauen Locken tief ins Gesicht fielen, und ich auf seine Anglerkluft blickte, seinen Stiefel, seine Neoprenstulpen, seinen Hut mit dem fröhlichen Hecht an der Leine bewunderte, gab er mir die Tablette in die Hand, zog eine Flasche Wasser aus seiner Hose.
“Trinken Sie mal. Und spülen Sie ihr Glas vorher aus.“
Erst jetzt fiel mir mein Glas auf, indem ich die Kronkorken der Nacht gesammelt hatte. Es mussten zwanzig sein.
„Bleiben Sie erst einmal hier. Kommen Sie zu sich. Ich bin da unten“, seine Hand deute den schmalen Uferweg entlang. „Dann sagen Sie mir, warum Sie sind und ich sage Ihnen, wo Sie sind.“
Für ein paar Minuten verharrte ich auf den Stufen des Turms. Als ich mich umblickte fiel mein Blick auf den Mobile Command Center, aus der Ferne vernahm ich Rauschen. Der Mobile Command Center war geschlossen. Seine Reifen lagen tief im Sand.
„Mein Name ist Dietfried Dembowski. Ich bin, ich war Ermittler. Einmal war ich in einem Unterwasseraquarium. Ich wollte mich retten. Und es gelang mir. Im zweiten Unterwasseraquarium. Jetzt fahre ich mit dem Mobile Command Center durch Deutschland. Ich bin auf der Suche. Ich war einmal Fan der Borussia. Jetzt spüre ich nichts mehr. Dörte hat eine Lamafarm, drüben am Oderbruch. Sie ist meine Liebe.“
„Setzen Sie sich erstmal, und schließen Sie ihr Telefon hier an. Sie sind ja ganz allein auf der Welt. Aber Sie wollen gehört werden. Und man hörte Ihnen zu.“
Ich setzte mich auf einen Baumstamm. Er stellte sich als Kurt Förster vor. “Wir sind hier am Neustädter See, nördlich von Ludwigslust. Südlich der A24, zwischen Hamburg und Berlin. Im Nichts! Made in Eile”
Und ich erzählte ihm, so als kannte ich ihn schon lange, denn mein Kopf wog zu schwer, um ihm nicht zu vertrauen, von dem Gesang.
„In klaren Nächten“, sagte er „passiert das hier. Dort, wo Sie jetzt den See sehen, Herr Dembowski, stand dereinst ein Kloster. Es versank. Es waren Gotteslästerer. Und manchmal, wenn Sie “
Ich erzählte ihm von den Trikots.
„Die Borussia hat sich schuldig gemacht“, antwortete Förster mir-
“Aber wie lautet die Anklage?”
„Das sollten Sie herausfinden. Sie sind doch Ermittler! Ich habe von Ihnen gehört, Dembowski. Damals in Iquitos. Sie sind ein Guter. Sie müssen nur durchhalten. Und jetzt nehmen Sie ihr Telefon und jetzt gehen Sie!“
Am Strand blickte ich auf mein Telefon. Eine Nachricht. „Was ist damals am Morski Oko passiert? Melde Dich. Gruss, Piotr!“