Vor ein paar Jahren einmal war ich unterwegs. Auf der Flucht vor mir. Ich konnte es nicht mehr ertragen. Ich saß, wie neulich erst, am Wasser und wartete darauf ein neuer Mensch zu werden, wartete auf mein anderes Ich. Noch lange hatte mich die bedrückende Schwere das Alltags nicht erreicht, doch bereits in diesen Wochen im Jahr 1998 verzweifelte ich an den Dingen, die mich beschäftigten.

Meine Ansichten waren radikaler, ich war weniger abgefuckt vom Leben und doch hatte ich, lange bevor ich Dörte hatte und noch länger bevor ich Dörte an einem Wintertag 2006 wieder verlor und weit bevor mich die Erinnerung an diese Zeit in einen nahezu tödlichen Strudel rissen, lange bevor ich meinen Job verlor und Ermittler wurde, eine komplette Ewigkeit bevor die Konstrukteure mir mein Leben auf einer Leinwand in einem Unterwasseraquarium in den Masuren präsentierten und es somit auf einen Schlag auf den Kopf stellten, lange vor all diesen unwiederbringlichen Tagen und Schicksalsschlägen also hatte ich bereits Tage des Weltschmerzes. Ich saß am Ufer, weit über dem Polarkreis, am Ende der westlichen Eisenbahnverbindungen.

Ich war ausgezogen in Sachen Liebe und Hass und ich kann nicht sagen, dass ich klüger zurückgekehrt bin. In diesen Tagen an einem Fjord weit über dem Polarkreis gab es keinen Tag und keine Nacht. Es gab nur das Meer, die Brandung und mich. Und Stunde für Stunde und Tag für Tag zogen dahin, das Zeitgefühl war mir längst abhanden gekommen. Ich schlief, wenn ich müde war und aß, wenn ich hungrig war. Ich beobachtete den Lauf der Sonne und sah den Fischen im klaren Wasser bei ihren Bewegungen zu.

In all den Tagen und Wochen sah ich keinen anderen Menschen. Wie wäre das, Dembowski, fragte ich mich, wie wäre das, wenn es neben Dir niemand anders auf dieser Welt geben würde? Würdest Du etwas vermissen? Würdest Du die Hektik des Alltags immer noch spüren und würdest Du Dich an die Zeiten erinnern, an denen neben Dir noch andere Menschen da waren und würdest Du Dich nach diesen Zeiten zurücksehnen? Würde das Verlangen Dich zerstören, Dembowski, fragte ich mich und was würdest Du wirklich vermissen?

Wäre es die Borussia oder wären es die Menschen, die wenigen Menschen mit denen Du in Deinem Leben bislang so etwas wie eine Verbindung aufbauen konntest, fragte ich mich und während ich dort saß und mir die Fragen stellte, die in diesem Moment für mich von größter Bedeutung waren und auf die ich keine Antworten hatte, von denen ich jedoch überzeugt war, sie als erster und als gleichzeitig letzter Mensch jemals gestellt zu haben, die aber nur auf eine anrührende Art für jeden Menschen zu jeder Zeit die größte Bedeutung haben – doch ich war für diese Erkenntnis noch lange nicht bereit – ich mich also an meiner eigenen Naivität, an meinem eigenen Erwachen abarbeitete und währenddessen die Tage zwar im Osten begannen doch niemals endeten, fasste ich einen Entschluss. Dembowski, egal, was auch passieren wird, Du lässt Dich nie fremd bestimmen, Du wirst immer Deinen Weg gehen, Dich nicht von Liebe, nicht von Hass, nicht von Menschen und nicht von Vereinen führen lassen.

Irgendwann stand ich auf, packte mein Zelt zusammen und ging die 20 km zum Bahnhof zurück. Durch lange Tunnelanlagen gelangte ich zurück in die Zivilisation. Es hatte sich dort nichts verändert. Von meiner anfänglichen Sicherheit blieb bereits beim ersten Sonnenuntergang wenig übrig. In Stockholm setzte ich mich in eine Bar, ich bestellte mir ein Bier und einen Gin Tonic. Ich schwieg den Abend über, die wenigen Gesprächsannäherungen des Barkeepers ignorierte ich und bestellte mir stattdessen noch ein Bier und noch ein Gin Tonic.

Auf der Fähre nach Gdansk traf ich am nächsten Tag zum ersten Mal auf Piotr, der gerade von einer Tagung kam und auf dem Heimweg war. In einem stempelgestützten Haus verbrachten wir ein paar Tage und Nächte. Abends grillten wir und tagsüber schlenderte ich durch die Hafenanlagen der Stadt. Nach Posen erwischte ich eine Fahrt und von dort ging es mit dem Nachtzug zurück ins Ruhrgebiet. Bei meiner Rückkehr hatte mich niemand vermisst. Und auch wenn ich mir vorgenommen hatte, ein anderer Mensch zu werden, so war es mir nicht gelungen. In den nächsten Jahren fügte ich mich meinem Trott und wurde der Mensch, der ich jetzt bin. Der Mensch färbt ab, so lange er lebt und doch traf ich immer nur auf die farb- und gesichtslosen Menschen. Ich nahm nichts auf und ich färbte nicht ab. Ich war da und wurde von mir unbekannten Abgründen angesogen.