Den Tag, an dem die Mauer fiel, verbrachte ich an der Bösen Brücke. Früh morgens hatte ich mir bereits im Discounter auf der Prinzenallee ein paar Träger Bier besorgt und mich dann die wenigen Meter die Osloer rübergeschoben, die auf einmal abrupt und für mich weiterhin ohne jeden ersichtlichen Grund bereits vor der Brücke in die Bornholmer Straße überging. Hier standen keine Häuser mehr. Langsam verengte sich die Tramspur, nur um ganz oben auf der Brücke in ein Gleis überzugehen.
Die Ostseite der Bornholmer hatten sie in den Jahren nach dem Mauerfall verkommen lassen. Zwar waren in Richtung Pankow ein paar Gedenktafeln aufgestellt, doch auf dem alten Parkplatz, der alten Grenzanlage, dort wo damals der Grenzbeamte Harald Jäger die Mauer unter dem Druck der Falschaussagen des ZK-Sprechers dem Ansturm nur noch die vollkommene Aufgabe sämtlicher Ideale seiner Sozialistation entgegenhalten konnte, hatten sie in den letzten Jahren einen neuen Discounter errichtet. Dank der Berliner Bebauungsverordnung durften ein paar Unerschrockene über dem Discounter ihre Penthäuser beziehen. Ich aber nur meinen Posten. Freitag, der 09.11.2012. 23 Jahre nach dem Mauerfall. 23 Bier vor der Trunkenheit.
„Ich bin dann in die ehemalige, alte BRD-Abfertigungsstelle gegangen“, hatte Jäger irgendwann einmal erklärt. Bewaffnet mit ein paar Bieren suchte ich nach den Spuren dieser Stelle. Sie führten mich in den Discounter. „Hier können se aber keen Bier trinken!“ „Kann ich, weil ich es kann.“ Sie sagte nichts mehr. „…und wollte meinen Tränen freien Lauf lassen,“ waren Jägers Worte, der das dann aber nicht konnte, weil dort ein anderer Grenzbeamter stand, ein Hauptmann wie Jäger anmerkte. Auch dieser weinte. Und ich weinte jetzt auch. Stellvertretend. Über das Grundübel dieser Stadt. Dass jetzt hier ein Discounter stand. Und sich niemand mehr erinnern wollte.
Ich ging wieder auf die Straße. Hoch bis ans Ende der Brückenzufahrt. Setzte mich hin, beobachtete die Flugzeuge, die über Tegel runtergingen und die Bahnen, die sich im Dreieck zwischen Bornholmer, Gesundbrunnen und Schönhauser, im Rhythmus des Alltags bewegten. Hier war niemand mehr auf Erinnerungen getrimmt. Einmal kam eine Gruppe Fahrradtouristen vorbei. Das hier, erklärte der Mann mit der Warnweste, nenne man jetzt den Platz des 9.November. Der sei ja heute, merkte jemand an. Ja, stimmte der Warnwestenträger zu, der sei heute.
Ich schlick mich an die Gruppe. „Soweit ich weiß, ab sofort.“ Das stimme nicht, erklärte der mit der Weste. Schon den ganzen Tag. Ich ging wieder zum Aussichtspunkt. Trank noch ein Bier, ignorierte den Straßenlärm, rauchte, dachte nach und schmiedete Pläne. Gegen Nachmittag kamen ein paar Leute auf mich zu. Ob denn auch alles in Ordnung sei. Ich konnte mich gerade noch auf den Beinen halten. Immerhin. „Soweit ich weiß, ab sofort“, erklärte ich immer wieder. Aber es war hoffnungslos. Freitag, der 09.11.2012. Einheit in Zeiten der Individualisten.
Ich schleppte mich noch die Straße runter, bei einem Kaminhändler in der Prinzenallee ruhte ich mich aus. Es war noch nicht spät. Die letzten Meter, das hatte ich bemerkt, war mir ein Typ gefolgt. Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, die Jogginhose eine Spur zu grau, die Sneaker ein wenig zu abgenutzt, um hier im Wedding als Einheimischer durchzugehen. Wird sich schon bemerkbar machen, dachte ich, öffnete die Tür und bestellte ein Wein. Auf der anderen Straßenseite drückte sich der Typ rum, war mal auf der Mittellinsel, dann wieder vor den Schaufenstern der Kolonie Wedding. Gegen Mitternacht, nach meinem vierten Wein, nach so vielen Bieren, traute er sich rüber.
Er trat in den Kaminladen. Seine Kapuze war immer noch tief ins Gesicht gezogen. “Kennst Du das Leben?” “Klar. Mach ich gerade.” “Nein. Es ist das was passiert, während Du eifrig Pläne machst.” Die Kapuze war wie gesagt tief ins Gesicht gezogen. Er sah den Schlag nicht kommen. Aber so ein Mist musste ich mir nicht geben. „Aber….!“ Der Besitzer des Kaminladens eilte aus einem Kellerabsatz hervor. „Aber was?“, fragte ich ihn, hielt meine Faust und blickte auf den Typen auf der Erde, der sich langsam zu mir drehte. Die Kapuze immer noch ins Gesicht gezogen, ein paar rote Flecken verschönerten das Grau seiner Jacke. „Und jetzt?“, brüllte ich den Typen an.
“Musst Dir das doch nur vor Augen halten! Die, die hier gerade noch durchliefen, sind bald dahin. Diese Gegenwart war nie mehr als Deine Vergangenheit”. Langsam sah ich sein Gesicht. Unter der Kapuze versteckte sich Piotr. Er hatte Nachrichten für mich und er hatte sich nicht verändert.
Der Kaminladenbesitzer blickte uns fragend an, verschwand aber bald wieder von der Blickfläche, nicht aber bevor er uns zwei Flaschen Wein auf den Tisch gestellt hatte. „Aufs Haus. Ich befeuer mal die Öfen!“ Sollte er machen. Piotr fing an, erzählte mir von seiner Flucht, davon, wie sich die Konstrukteure immer noch nicht neu organisiert hatten und davon, dass einer der Schlüssel aber in Berlin läge und er mich daher habe aufgesucht. Alles, sagte er, alles sei verziehen. „Es musste so kommen. Wir konnten nicht mehr so weitermachen. Die Sache mit den Unterwasseraquarien war doch komplett aus dem Ruder gelaufen.“ Ich nickte. Das war sie.
„Du musst diesen Sölden finden. Der macht in Musik. Hängt meist in Biergärten an der Spree rum. Manchmal in Clubs. Hat immer ne Frau an seiner Seite. Dranbleiben. Du musst Dich in den Laden einschleichen!“ Piotr zeigte mir ein paar unscharfe Aufnahmen des Paars. Es war keine große Spur, aber die Kohle in seiner Hand sah verlockend aus. Ich versprach ihm, mich an Sölden heranzuschleichen. Das war mein Plan, der passierte, während ich Piotr auf die Fresse haute. Das hatte ich verstanden und sein Vergangenheit ist Zukunft und Gegenwarts-Quatsch nahm ich ihm nicht mehr ab. „Ich meld mich in einem Monat.“ Er verschwand. Mittlerweile zog die Sonne über Pankow auf.
Den Sonnaufgang sah ich bereits aus meinem Zimmer in der Wollank. „Mit Musik beschäftigen“, wiederholte ich, „mich mit Musik beschäftigen“ wiederholte ich in einer Tour, machte mir einen Kaffee, öffnete die Fenster, zündete mir eine Ernte an und legte die King Krule auf. Hatte ich irgendwo aufgeschnappt und fand sie formidabel. Sie war neu. Das musste reichen, um diesen Sölden zu beeindrucken. Breaks, der Pathos, die Gitarre. Immerhin. Ob das reichen würde, war mir nicht klar und überhaupt war Spieltag. Runterkommen. Endlich. Nach den gefühlt hundert Bieren am Vortag, der sich immer noch in der Verlängerung befand, war das ein verdammt heikler Job.
Gegen Augsburg also, dachte ich, als ich mich mit in der hoffnungslos überfüllten U8 in Richtung Kneipe quälte. Keine Tore, keine Punkte, FCA. Das würde schon irgendwie langen. Und ein paar Stunden später hatte es gelangt, auch wenn das Spiel nicht in Erinnerung bleiben würde. Das waren die Spiele, die Punkte brachten. Und di e hatten wir dringend nötig.
Als ich aus der Kneipe zurückkam war ich platt, aber es war mal wieder an der Zeit für einen Kommentar, den schrieb ich dann aber erst am Sonntag, nachdem Schmelzer auf einmal nicht mehr bei der Nationalmannschaft dabei war.
Nationalmannschaft ohne Schmelzer
(berlin / 11.11.2012) Nichts war passiert, sagte Marcel Schmelzer im Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Der Borussia-Star sprach über die Kritik des Joachim Löws, der Schmelzer fehlendes internationales Niveau vorgeworfen hatte. Schmelzer hatte mit ein paar überragenden Spielen in der Champions League und diesem Interview geantwortet. Wie denn sein Verhältnis zum Bundestrainer sei, wollte ihm die Süddeutsche entlocken. Aber Schmelzer nicht antworten. Das, so der überragende Linksverteidiger, könne „natürlich in erster Linie der Bundestrainer beantworten.“ Nur einen Tag später sagt Schmelzer nun seine Reise zum Länderspiel ab. Verletzungsbedingt, eine „Vorsichtsmaßnahme“ sei das, wie man hört. Das stimmt. Nach Informationen dieser Zeitung aber könnte man dies auch „Schutzmaßnahmen“ nennen. Auf das dem Verband der Laden zum Jahresabschluß nicht um die Ohren fliegt. Marcel Schmelzer hat die Frage nach dem Verhältnis mit einem Tag Verzögerung beantwortet, oder war es doch der Bundestrainer? (dembowski / DerSamstag!)
Ich war zufrieden, aber immer noch nicht nüchtern. Ich schickte Redermann den Text und bevor er mir antworten konnte, fuhr ich für ein paar Tag zurück in den Oderbruch. Dörte hatte ich lange nicht mehr gesehen.