„Haben Sie eigentlich schon einmal über neue Haare nachgedacht?“ Mir ist ja schon viel passiert, aber eine derartige Unverfrorenheit ist mir lange nicht mehr untergekommen. Ich sitze beim Friseur in der Nordstadt und will eigentlich nur wieder meinen geliebten Seitenscheitel zurück, der mir in den letzten Wochen abhanden gekommen war. Und dann fragt mich dieser Typ, ob ich schon einmal über neue Haare nachgedacht habe. Mit Sicherheit wird das nicht der letzte Gedanke sein, der mir durch den Kopf geht, denke ich und freue mich über das Geschenk eines nächsten Tages. Denn heute werde ich nicht sterben, das wäre absurd. Aber bereits im nächsten Moment wundere und ärgere ich mich wieder über diese Frage.

„Inwiefern? Neue Haare?“ „Chef! Sie müssen drüber nachdenken. Es hilft nichts, Chef!“ „Ich verstehe überhaupt nichts mehr und die Haare? Die Haare können Sie später in eine Tüte packen. Einmal Kahlschlag bitte!“ „Ersatzhaar? Gut“ Er setzt den Rasierer an und schneidet bis auf den letzten Millimeter die ehemals langen Haare ab, es bleibt der Bart, der natürlich auch weg muss. Aus Dembowski, dem Dude wird Dembowski, der Nazi. Und alles nur wegen einer beschissenen Frage, denke ich. Wochen- ja monatelang habe ich drüber nachgedacht, wie es mit langen Haaren sein wird und dann das.

Es ist im Grunde also ein sehr langweiliger Moment dort auf dem Friseurstuhl in der Nordstadt, ein Moment, der so tausendmal an jedem Tag in jeder Stadt auf dieser Welt kommt und ein Moment, der mit meinen Ermittlungen erst einmal herzlich wenig zu tun hat, doch hatte nicht Piotr mir noch ein „wie Du Dich gibst und wie man Dich sieht, bestimmt den Weg Deiner Ermittlungen, die für uns von so höchster, ja von allerhöchster Bedeutung sind, die unser Fortkommen in der Fußballhauptstadt sichern sollen und somit von existenzieller Bedeutung für das gesamte Konstrukteurswesen sind“ auf den Weg gegeben? Und auch wenn ich wieder nichts verstanden hatte, war es wohl ausschließlich die Wahrheit und Teil des Leitspruchs der Konstrukteure. Unsere Vergangenheit ist Eure Zukunft. Piotr muss also bereits ein Vorahnung gehabt haben und ehrlich, wenn ich irgendwann diese Weisheit erlange und irgendwann einmal nicht nur das Leitmotiv runterbeten, sondern eben auch mit Leben ausfüllen kann, dann gehe ich über, dann werde ich, das ist mir auch klar, aus dem Leben austreten und mich in einer Station einrichten müssen. So verlangt es der Ehrenkodex.

Doch bis dahin werden noch ein paar Schwimmer im Petroleumhafen untergehen und bis dahin werde ich mich mit dem großen Boss beschäftigen und mit Redermann, der mal so und mal so ist, auseinandersetzen. Ich sitze mit kahlgeschorenem Kopf in der Erdgeschosswohnung, lege eine alte Frédérik Mey Platte auf, mache mir ein Pils auf und starre die Wände an. Das alte Songs:Ohia-Poster, das Tourplakat der längst verblichenen 16 Horsepower. Teile meiner Vergangenheit, die laut Leitmotivvorgabe ja auch irgendwie meine Zukunft sein werden und ganz hinten, hinter der Tür und selten einsehbar, hängen die Champions League Sieger von 1997. Das große Team um Ricken, Lambert, Möller, Sammer, Klos und Sousa. Was ein Team und aber auch nur ein Team aus zusammengekauften Spielern, nicht zu vergleichen mit der Mannschaft gegen die ich in der vergangenen Saison ermittelt habe. Früher war auch nicht mehr Sonne, denke ich und schaue auf die runtergezogen Rollladen.

Bald geht wieder alles von vorne los und doch hat sich so viel verändert. Ich werde nicht mehr gegen das Team ermitteln, ich habe einen Gegenspieler und einen Sidekick, ich habe Teile meiner Erinnerung zurückerlangt und eigentlich hält mich nicht mehr viel in dieser Erdgeschosswohnung und doch weiß ich, dass sie mir so viel geben wird, wenn ich an ihr festhalte. Vielleicht, sage ich leise zu mir, mache ich einfach noch mal eine Pause und fahre irgendwo hin.

Ich will nur mal irgendwo hin und doch hier bleiben. Ruhe- und rastlos. Die Zeiten waren früher. Angekommen. In der Erinnerung an die Vergangenheit, die die Zukunft bedeutet. Alles klingt so einfach, wenn es ausgesprochen wird und alles ist immerzu schwierig, wenn aus Worten Taten werden sollen. Aber die Konstrukteure machen es vor. Es geht. Auch aus einer Station (wie ich sie vermisse!) gehen manchmal Wahrheiten vor. Und wenn es nur darum geht, dass auf eine kurze Nacht immer ein langer Tag folgt. Es sind diese Kleinigkeiten, die ich zum ersten Mal seit Jahren wahrnehme und es sind nicht die Haare auf meinem Kopf, die ich vermisse.