Sonntag. Als ich das Haus verließ, war es noch früh. In den Straßen der Stadt begegneten mir die Zurückgebliebenen der letzten Nacht. Mein Neid war ihnen sicher. Mein Samstag hatte aus solider Unterhaltung bestanden. Während die Zurückgebliebenen der Nacht noch frisch waren, hatte ich mich mit Rocko Schamoni unterhalten. Auf der Anlage lief Showtime aus 1999, ich war der Diskoteer und niemand sah mir zu. Die Hüllen hatte ich verdrängen können. Die Zeit stand für einen Moment still.
Immer wenn die Zeit still stand und das Leben um mich herum zum endgültigen Erliegen kam, versuchte ich mir vorzustellen, was passiert, wenn, wie damals bei den Absoluten Giganten, die Platte springt und immer Musik da ist. Immer. Für immer ein Moment. Würde ich nach ein paar Tagen, die ich nicht bemerken würde, vor Langeweile umkommen, was würde ich denken? Nur einen Gedanken und diesen Gedanken immer wieder. Was wäre dieser Gedanke?
Ich war der Diskoteer in der Werbeuniform und die Zeit stand still, doch in den Klubs der Stadt drehte sich die Zeit weiter. Erbarmungslos in Richtung Sonnenaufgang und Kater, davon würde ich verschont bleiben, dachte ich mir. Und hatte einen Gedanken weitergedacht, die Zeit stand, das wurde mir schlagartig bewußt, nicht still. Es war nicht mehr 1999, sondern 2012 und 1986 lag 1999 genau so lang zurück, wie jetzt 1999 zurück lag. Eine Zeitspanne von 26 Jahren. In einer Nacht.
Sonntag. Als ich das Haus verließ, war es noch früh. Ab Alexanderplatz mischten sich in der U5 die Genossen unter die Zurückgebliebenen. Der Wagen stimmte die Internationale an, die roten Fahnen wehten im Zugwind der geöffneten Türen am Strausberger Platz. Die Genossen waren aus Hessen, Bayern, Cottbus und Kiel angereist. Und sicher noch aus vielen anderen Städten. Waren es mehr als noch in den vergangenen Jahren. Waren Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht die letzte Ausfahrt der Kapitalismusgegner? An der Weberwiese raus. Auf beiden Seiten lag die Karl-Marx-Allee. Keine Wiese. Nirgends.
Mein Blick reichte zu den Balkonetagen der Stalinbauten. Der Himmel war klar, die Sonne stach von Lichtenberg kommend auf den Alexanderplatz in meinem Rücken. Die oberen Etagen der Stalinbauten waren erleuchtet, nicht von der Sonne, sondern von den Signalwesten der Polizei, die diesen Straßenstrich heute hier kontrollierte. Als ich genauer hinschaute, sah ich nicht nur die Signalwesten der Polizei. Sie hatten es sich auf den Balkonen der Stalinbauten (was würden nur die Bewohner sagen?) und auf den Dächern der Stalinbauten bequem gemacht, ihre Präzisionswaffen funkelten in der Morgensonne. Irgendwas war hier los. Ich drückte mich an die Häuserwände, suchte Schutz. Waren sie hinter mir her? Hatten sie Komaroff ausgemacht?
“Die sind wegen uns hier”, sagte ein Typ im Commodore-Trikot, der sich hinter mir klein machte “die sind wegen dem Kongress hier. Erst war es nur Pfefferspray, doch dann haben sie sich auf den Balkons und den Dächern der Stalinbauten ausgebreitet. Keine Sorge. Das ist zum Schutz der Allgemeinheit.” Finger weg von meiner Paranoia oder war das keine Paranoia mehr und waren sie überhaupt zum Schutz hier? Rein ins Kosmos. Vor ein paar Tagen hatte ich eine Einladung erhalten. Der Ermittler sollte moderieren. Okay, hatte ich mir gedacht, wenn ich mein “DerSamstag!”-Banner aufhängen darf, wird das schon gut sein. Und so spazierte ich in das ehemalige Kinogebäuden, den “DerSamstag!”-Banner in meiner Tasche.
Ein paar Minuten später bereits war der Banner über die Leinwand, auf der bis dahin Bilder aus der vergangenen italienischen Ultraepoche wechselten, gespannt. Neben mir nahm Michael Brunskill von der FSF Platz. Er erzählte mir vom zerstörten englischen Fußball. Er berichtete von den unterschiedlichsten Werbekonzepten der EPL-Vereine. Da waren die Boutique Clubs und da waren die Tourist Clubs und in all der Zeit waren die eigentlichen Fans längst in die Pubs abgewandert und hatten sich dort ihre eigene Fanwelt geschaffen. Sie ließen ihr Geld im Pub, sparten sich den Eintritt. Vertranken ihr Eintrittsgeld und schauten auf arabische Übertragungen ihres Heimatvereins, der ein paar Meter weiter vor nicht ausverkauftem Haus, dafür aber vor etlichen Tourists und Boutiquebesitzern, wenn ich das, denn Michael sprach im breitesten Geordie, alles richtig verstanden hatte.
Erstaunt hakte ich nach und lenkte das Gespräch in Richtung Alkohol im Stadion. Ob das denn immer noch verpöhnt und verboten sei. “Natürlich nicht”, entgegnete mir der schlackisge Wirbelkopf “aber schon: Man kann Bier kaufen, man kann Bier trinken, aber sobald sie das Gras sehen, dürfen sie kein Bier mehr trinken, werden sonst aus dem Stadion geschmissen. Sehen sie Gras und trinken sie Bier, müssen sie raus. Dabei macht Gras doch überhaupt nicht agressiv.” Der Saal lachte, ich hatte meine Antwort. Bier trinken war also nur im Rahmen erlaubt. Jetzt ließ ich es laufen und träumte mich in die Touristenstadien in England. Es musste eine fantastische Welt sein. Ich würde mich an die Aufgänge stellen und denunzieren und mir anschauen, wie die Touristen, die eben gerade noch ein halbes Vermögen für ein echtes Spiel bezahlten hatten, das Stadion durch die Hintertür und in den zärtlichen Händen der Stewards verlassen müssten. Als ich da so saß und träumte, wischte ich mich der Hand da Mikrofon beiseite. Es war genug gesagt. Kein Zwanni, das brachte ich noch in Erfahrung, wird in England zur Score Campaign. Michael wünschte ich noch viel Glück und als ich aus der Tür trat, waren dort keine Polizisten in Signalwesten mehr. Die Zurückgebliebenen der Nacht lagen längst im Bett, die Touristen hatten in der Stadt längst das Ruder übernommen und ich hatte keine Möglichkeit, sie zu denunzieren. Gottseidank nicht in England!