Und wie ich da den Mauerweg entlang bis an den Stadtrand spazierte und schon wieder in Lübars landete, konnte ich die Gedanken an den Dienstag nicht so ganz verdrängen. Auch wenn der Köppchensee in seiner frühlingshaften Vollkommenheit. Die Blesshühner trieben sich neben den paar Enten und eins, zwei Rothalstaucher hoben in der Mitte des Sees ihre Köpfe übers Wasser. Über mir kreiste ein Habicht und als ich genau hinschaute, entdeckte ich in den Böschungen ein paar Blindschleichen. In der Luft schwirrten Spatzen, in den Hecken saßen Goldammern. Kaum ein Mensch verirrte sich je an diesen Ort.

Trotz des Friedens, den ich mittlerweile mit der Natur, dem Frühling, meinem Leben und dem ganzen Rest geschlossen hatte, kreisten meine Gedanken immer noch um den Dienstag, immer noch um die Sekunden nach dem Jubel. Ich war verliebt in das Tegeler Fließtal und dachte an das Frankenland. An Kevin, seinen Jubeler, an das desaströse Bild, welches die unterlegenen Fürther nach der Niederlage abgegeben hatten. Dieses Bild hatten sie aber durch gezielte Äußerungen und durch ihr charmantes Underdogtum schnell in die Tasche der großen Borussia gesteckt. Niemand redete über den Finaleinzug, alle diskutierten über die Verordnungen zum angemessenen Jubel bei Tor in letzter Sekunde.

Mir war so ein Handbuch bislang noch nicht untergekommen. Dafür war ich zutiefst dankbar. Hatte ich doch bereits Probleme mit dem Ermittler-Handbuch der verbindlichen Freundlichkeit. Die Redakteure hatten nun so ihre Probleme mit dem Fußballer-Handbuch der verbindlichen Jubelgesten. Ich bekam es nicht aus dem Kopf. Was wollten sie eigentlich? Ein klinisch reines Spiel? Ein Spiel, bei dem der Sieger demütig die Leistung des Gegners anerkennt und Antrag auf Spielwiederholung stellt. Sollte der Verein sagen: „Die Sache mit der Auswechslung war wirklich schade. Wir alle hätten es der Jasmin gegönnt! Sie ist ein toller Torwart! Das ist unendlich schade. Wir verzichten auf diesen Sieg, der nur durch größte Ungerechtigkeiten zustande gekommen ist, und beantragen hiermit eine sofortige Wiederholung der letzten vier Minuten!“

Das wäre sicher ganz im Sinne von Mike Büskens gewesen, der bereits vor 11 Jahren seine Erfahrungen mit diesen vier Minuten gemacht hatte. Ich erinnerte mich an den vollkommen unangemessenen Kahn-Jubeler. So etwas macht man nicht, wenn Mike Büskens auf der Verliererseite steht. Natürlich durfte Büskens sich hinsetzen und über Lüdenscheid herziehen. Das war kein Problem, das war Teil der Folklore. Aber es war einfach unangebracht, dann über Mike Büskens herzuziehen, dachte ich. Der arme Mike. Der arme Rachid. Der arme Asa. Und dann traf auch noch ein alter Nürnberger, der sich erdreiste vor den Heimfans zu jubeln. Die auf die Spielertraube einprasselnden Feuerzuge hatten ihre Berechtigung. Gündogan hätte zwingen auf die andere Seite laufen müssen und erst dort jubeln dürfen! Zum Glück wurde Gündogan durch Nichtbeachtung gestraft. Allein stand er dort mit seinem Rollköfferchen, die Mannschaft war längst weg! Unsportliches Verhalten, das musste Gündogan erst noch lernen, wird in Dortmund sofort bestraft.

Im Falle Asa vs Kevin war die Situation immer weiter eskaliert. Während Büskens geschickt die ohnehin kaum noch vorhandenen EM-Chancen Kevins sabotierte, und sich ein gesichts- und namenloser Spieler zum Handlanger machte, schwieg Asa weiter. Die Vorwürfe standen im Raum und er würde den Teufel tun, diese zu entkräften. Er suhlte sich in seiner Opferrolle. Um Kevin reinzuwaschen, hatte ich einen Gedankenleser engagiert und während ich dort am Köppchensee saß, mich darüber aufregte, dass die Ruhe der Natur durch meine lauten Gedanken gestört wurde, klingelte das Telefon und zerstörte diesen malerischen Tag.

Es war Reiser. „Lange nix gehört, Dembo! Es ist ruhig ohne Dich! Hab hier ein paar Infos für Dich. Lucas wechselt nach China. Sofort! Musst Du in DerSamstag! bringen!“ „Kannst Du in Deiner Dreckszeitung veröffentlichen. Wir verkünden nur die wirklich wichtigen Sachen. Ist auch ruhig ohne Dich, Du Arsch! Es war ruhig!“ Natürlich beschwindelte ich ihn, legte aber meine Lüge bemerkend sofort auf. Zum Glück hatte ich ihm nichts vom Gedankenleser erzählte, der sich nach meiner Rückkehr an den Computer bei mir meldete.

„Sehr geehrter Herr Dembowski
Nach langer Ansicht des von Ihnen zur Verfügung gestellten Bildmaterials und unter Einbeziehung der uns vor liegenden Sendesequenzen, bin ich hoch erfreut Ihnen das Ergebnis meiner Arbeit mitteilen zu dürfen. Es war, das will ich vorweg einschieben, nicht die einfachste Aufgabe. Durch die der Situation geschuldeten Emotionen und durch die beide Spieler betreffenden Vorgeschichte, zogen sich die Gedankenlesungen in bislang nicht gekannten Ausmaßen in die Länge.
Doch, das darf ich sagen, ich bin zu einer Antwort gekommen. Kevin Großkreutz hat, als er sich vor Asamoah ausbreitete, zu folgenden Worten gegriffen: DU BLAUER AFFE! Diese Äußerung darf man, ich erlaube es mir noch einmal die Vorgeschichte einzubeziehen und auch zu werten, nicht als rassistisch, sondern nur unter „zu verständlich“ einordnen. Das Schimpfwort Affe wird in der deutschen Sprache vorwiegend für eingebildete, lächerliche Fatzkes benutzt.
Diese Meinung darf der Dortmunder Spieler, wie immer, sie ahnen es, unter Einbeziehung der Vorgeschichte, auch offensiv auf dem Fußballplatz vertreten.
Im Übrigen gratuliere ich Ihnen zum Finaleinzug und wünsche Ihnen noch einen erfreulichen Tag.
Im Anhang übersende ich Ihnen meine Honoarforderungen.
Ihre: Katja Dorrntrupp“