Der erste Ruhetag im Unterwasseraquarim. Piotr hat dafür natürlich auch wieder eine druckreife Erklärung.  Ich höre einfach nicht hin und genieße die Ruhe und die Freiheit, die hier unten natürlich immer noch die eingeschränkteste Freiheit ist und nichts mit der Freiheit zu tun hat, die man auf dieser Welt an abgeschiedenen Orten oder, wenn man zu den Glücklichen gehört, in belebten Städten finden kann.
Mittlerweile bin ich bestimmt schon 10 Tage hier unten, was in der Nordstadt, was in Dortmund, was in Deutschland, was in der Welt passiert, scheint hier unten in erster Linie nicht zu interessieren und doch, wenn ich die Bilder zusammenfüge, werden entscheidende Momente von hier unten beeinflusst. Bescheiden, abgeschieden, verschwiegen – die Konstrukteure sind eine ungeheuerliche Gruppe. Von  Tag zu Tag wächst mein Respekt vor ihnen. Irgendwas machen sie richtig, irgendwann finde ich raus, was sie überhaupt machen.
Ich ziehe mich zurück, denke über den großen Boss, den Iquitos-Verlag, die Zukunft nach. Wird sich ein Ermittler anstelle des Ermittlers finden. Ich lese in einem Buch im Aufenthaltsraum. Scheinbar hat es ein Österreicher verfasst. „Die Manifestation des Kapitalismus in unserem Leben ist die Traurigkeit.“ Hochtrabender Titel, unscheinbare, aus dem Leben gegriffenen Skizzen. Ursachenforschung. So wie ich sie hier betreibe. Es sind die Erinnerungen, die einen Menschen machen.  Es sind die Träume, die einen am Leben lassen. Doch die Gegenwart ist der Ort, an dem wir uns alle befinden, denke ich. Daran wird sich wohl nie etwas ändern. Die Unzufriedenheit ist der Motor der Veränderung. Die Erinnerungen sind der Motor der Unzufriedenheit. Die Gegenwart ist die Summe der Vergangenheit und der Zukunft. Ich werde mich nie von Dörte, wo bist Du? was hast Du getan, Dörte? was habe ich getan, dass Du verschwunden bist, Dörte?, verabschieden können. Reiser wird immer in mir weiterleben und die Zeit in der Kneipe wird ein Teil von mir bleiben, auch wenn ich mich irgendwann einmal anders positioniere. Die unglaubliche Saison 2010/2011 wird immer Teil der Geschichte bleiben, die Bewohner der Stadt und nicht nur die Bewohner der Nordstadt werden in 30, ja in 50 Jahren von der goldenen Generation erzählen. Sie werden vom 3-1 in Leverkusen, vom 3-1 in München, vom 3-1 in Pauli schwärmen, sie werden wissen, wo sie waren, als der Titel perfekt war (im Stadion!), sie werden von der Feier im Mai erzählen und von Nuri schwärmen, vom unzerstörbaren Bender erzählen und dem jungen Götze werden sie einen ganz besonderen Platz beimessen. Es ist Teil ihrer Vergangenheit, es wird zu jeder Zeit ihre Zukunft bestimmen. Sie werden sich vom Verein lösen oder ihm ewig treu bleiben, sie werden auswandern oder sie werden sich zeitlebens kein Stück verändern und in ihren Vororten Familien gründen und sterben. Und egal was sie machen wird die Meisterschaft 2010/2011 immer einen speziellen Platz in ihren Herzen haben. Die Spielzeit, die uns für 365 Tage die Unschuld zurückgab. Die Meisterschaft, die sich anfüllte, wie eine Meisterschaft in den späten 50er des vergangen Jahrhunderts. Der Moment, an dem Stadt und Verein eins waren, an dem es keine Grenzen zwischen Spielern und Fans gab. Die Vergangenheit ist unsere gemeinsame Zukunft, unserer Knotenpunkt, der Treffpunkt unserer Lebenslinien, das Bindeglied unseres Lebens. Wir haben es erlebt, nicht für Angela und erst recht nicht für Nicolas. Es war unser Moment, und auch wenn ich gegengesteuert habe, so war ich doch zu jeder Zeit in meinem Herzen dabei. Nicht einmal Reiser konnte mich daran hindern. In Zukunft aber werde ich Reiser verhindern, auf Iquitos kann ich nicht warten. Die Vergangenheit ist die Zukunft. Die Gegenwart der Moment, an dem beide aufeinandertreffen. Achtung, Achtung, vor der allzu schnellen Heilung!