Kaum ausgeschlafen. Es wurde länger. Obwohl ich schnell bei Schill raus war. Obwohl ich in der Wohnung saß. Auf der Suche nach dem verlorenen Glück. Auf der Suche nach der verloren Spielfreude. Auf der Suche nach dem verlorenen Gegenpressing. Samstag. Der schlimmste Tag der Woche. Seit Mitte September. Erst hatte ich getrunken, erst hatte ich die Krise gesehen, die Wand, auf die der BVB gnadenlos zusteuerte. Und ich hatte gewarnt, so wie man warnen konnte. Weit vorher. Aber niemand vertraute mir. Und ich vertraute niemanden.  Hatte verspielt, sie hatten verspielt.  Wie auch immer. Meine Zeit als Ermittler ist vorbei, dachte ich in der Küche sitzend.
Im Radio liefen die Nachrichten. Immer wieder diese Schleife.
„Die Krise von Borussia….“
Die letzten Jahren schloss sich dann immer ein fröhliches „Mönchengladbach verschärft sich“ an. Aber jetzt war alles anders. Früher war vorbei. Heute war Scheiße. Und so fühlte ich mich. Wie jedes verdammtes Wochenende.
Man wird älter, man beschäftigt sich mit anderen Dingen, manchmal sogar mit dem Leben. Und auch dort gewinnt man, und verliert meist. Aber es nimmt einen nicht so mit, dachte ich kurz vor der nächsten Nachrichtenschleife. Nichts, dachte ich, nimmt einen so mit. Diese Niederlagen. Dabei ist es nur Fußball. Dabei ist es egal. Es sind nur Namen, es sind nur Farben, es sind nur Erinnerungen.
Aber wovon leben wir sonst? Alles baut auf diese Erinnerungen auf. Und würden wir sie auslöschen wollen, es gelänge uns nicht. So oft, so schwer, so hart wir es auch tranken, so mehr Nächte wir damit verbrachten, uns nicht zu erinnern, umso mehr Tage verbrachten wir damit, uns an die gescheiterten Versuche unserer Existenzauslöschung, und nichts anderes waren diese Versuche, uns in den Nächten zu betäube, zu erinnern. Und das passiert nicht nur mir, dachte ich. Und blieb doch nüchtern.
Nüchtern, nicht weil ich nicht mehr trinken wollte, denn ich wollte immer trinken, aber nüchtern, um den Schmerz zu fühlen. Um mich über diesen Schmerz lustig zu machen. Ich war der verdammte Ermittler. Ein harter Hund. Und solange es mich nicht traf, waren Niederlagen, war das Scheitern einer Idee, das Scheitern von Menschen, war der totale Zusammenbruch gut für mich.
Daran wärmte ich mich. An der Idee des Scheiterns. Egal, warum die Borussia gescheitert war, sie war es.
Ich skizzierte einen Plan für die nächste Woche. Wie es kommen würde. Wer treten würde. Wer ehrlich bleiben würde. Wer was sagen würde. Die Liste wuchs.
So weiter ich in die Zukunft blickte, umso klarer sah ich natürlich die Vergangenheit. Sah all die Momente, die geblieben waren und sah, wie es eben Momente waren. Gute und schlechte. Wendepunkte. Tiefpunkte. Höhepunkte. Einfach Punkte. Keine Punkte. Momente blieben, egal, woher sie kamen und egal, wohin sie gingen. Sie blieben. Sie waren der Begleiter unseres Lebens. Wir waren sie, und sie waren wir.
Am Sonntag erteilte mir der Verein einen Auftrag.
 „Finden Sie den oder die Verantwortlichen für die Krise“, schrieb mir der Verbindungsmann aus der Geschäftsstelle. „PS: Die Stimmung ist mies. Beil Dich!“
Natürlich nahm ich den Auftrag an. Der Verein zahlte gut. Auch so ein Phänomen: Umso größer die Sorge, umso höher die Gagen und umso besser Ermittler.
Die Verantwortlichen würden sich schon melden, dachte ich mir. Ich unternahm nichts.
Am nächsten Tag kündigte Rummenigge intensives Brainstorming an. Mein Anfang: Rummenigge. Kalle. Aber ich ging lieber im Oktoberregen spazieren, ich kühlte mich lieber runter.  So viel Krise. Da konnte man schon einmal verrückt werden.
“Krise hier, Krise da. Bin kaum da, muss ich fort. Hab mich niemals deswegen beklagt. Hab es selbst so gewählt, nie die Trainer gezählt, nie nach gestern und morgen gefragt“, sang ich und blickte von oben auf den Gesundbrunnen. Auf all die Menschen, die sich von einem Moment zum anderen Moment bewegten, bis sie irgendwann in den Dunkelheit schritten.
Der alte Kampf. Gut gegen Böse. Dunkelheit gegen Licht. Erinnernd und loslassen. Einmal loslassen. Können wir nicht, konnten wir noch nie. Und die, die vom Loslassen sprachen, klammerten sich an ihrer Erinnerung fest. Der alte Kampf. Die Menschen würden ihn nie gewinnen. Ich beobachtete das Scheitern. Und als es dunkel wurde, ging ich noch auf ein Bier zu Schill, der alles verstand, weil er alles verloren hatte.
Der Boss. Das Lied vom Fluss. Das Tal.
„Schill, die wollen, dass ich die Verantwortlichen finde“, sagte ich. „Dembo, Du sprichst in Rätseln“, antworte Schill.
„Für die Krise. Der Verein. Aber es gibt da keine Hintermänner, es gibt da keine Bösewichte. Es ist passiert. Der Verein hat Fehler gemacht. Das passiert. Und trotzdem ist nichts verloren. Ich habe irgendwann einmal gesagt, dass nichts gut werden würde. Das stimmt. Aber nur, weil nie etwas gut wird. Weil wir alle scheitern. Weil wir alle nie das erreichen, was wir erreichen wollen, weil wir es nicht können, weil es nicht in unserer Natur ist.“
„Du solltest wirklich mehr trinken“, Schill stellte mir noch ein Schulle hin.
„Hauke, was denkst Du ist Glück? Das ist doch die Frage. Was ist das überhaupt, und was hat ein Fußballverein damit zu tun? Und wieso sollte eine Krise einen nicht glücklich machen. Typen wie Dir und mir passiert das doch ständig. Wir sind obenauf, und stürzen. Und später sind wir glücklicher. Ich meine nicht dieses Steh-Auf-Wenn-Du-Am-Boden-Bist-Motiv, das ertrage ich nicht. Manchmal muss man liegenbleiben und sich umschauen, wo man überhaupt gelandet ist. Und dann kann man aufstehen. Immer diese Eile. Immer dieses sofortige Korrigieren. Mir geht das alles auf den Sack Schill. Überall diese Eile. Überall dieses Mitreden. Diese Erregungen. Diese Meinungen. Ich habe zu nichts ne Meinung. Ich schaue nur hin. Ich sehe Dinge, ich beurteile sie nicht, ich verurteile sie nicht. Ich sehe sie. Ich notiere sie in meinem Kopf. Und da sind sie dann. Fügen sich zusammen. Ich sammel sie. Ich bin ein Momente-Sammler. Deswegen wollen sie mich. Deswegen fragen sie mich nach Rat. Weil ich nicht urteile. Weil ich sehe. Und soll ich Dir sagen, was ich sehe?“
„Alter, Dembowski!“
„Ich sehe Männer in Nadelstreifen!“
„Dembowski, nicht die Nummer schon wieder.“
„Okay. Ich sehe keine Krise. Ich sehe den natürlichen Weg. Ich sehe die Fehler, aber ich sehe auch die Ruhe, die Gelassenheit. Die Bayern sind sich nicht zu blöd, sich immer noch am BVB abzuarbeiten. Immer noch.  Und was immer auch passiert: Das ist nie die ganze Wahrheit. Niemals!“
So saßen wir noch ein paar Stunden in der Kneipe.  Aber wir schwiegen.

Am Mittwoch siegte der BVB in Istanbul mit 4:0. Daran hatte ohnehin niemand gezweifelt.