Dass er von Dembowski nichts erfahren würde, wurde Berg immer mehr bewusst. Nur einmal sah er ihn in ein Gespräch vertieft. Sonst schwieg Dembowski.
Frank Berg blickte sich um, ein paar Plätze entfernt blätterte Dembowski entspannt in einer Tageszeitung. Bereits seit ein paar Stunden saß Berg nun in dem Café gegenüber seiner Kurzzeitwohnung in der Schönhauser Allee. Er hatte die Ostertage nicht in Berlin verbringen wollen. Aber Düsseldorf wollte Ergebnisse sehen.
Lange hatte er es nicht in seiner Wohnung ausgehalten. Ein Vorderhaus, direkt am S-Bahnhof Schönhauser Allee. 3.Etage. Der Balkon überblickte die U-Bahn-Station. Sein Arbeitszimmer war direkt über den Lautsprechern der S-Bahn. Er war nun bestens über die Verspätungen der S41 und S42 informiert, er wusste nun, wann wo gearbeitet wurde und wo die Bauarbeiten mit Schienenersatz- und wo die Bauarbeiten mit Pendelverkehr umfahren wurden.
Manchmal stand Berg stundenlang auf dem Balkon, blickte auf die Schönhauser Allee, den Schnee, der tagsüber in Matsch überging. Manchmal saß Berg im Zwischenzimmer, legte eine alte Dire Straits-Platte auf und schloss die Augen. Dann war er nicht mehr Berg, sondern nur noch Frank, der in einem unscheinbaren Restaurant am Rande der Karpaten zur Mittag aß, sein Bier trank, sich später zufrieden zurücklehnte und auf die Ausläufer der Karpaten blickte. Im Radio liefen alte Klassiker und auf Dire Straits folgte Van Morrison und darauf Bob Marley und zwischendurch lief Werbung, in einer Sprache, die er niemals sprechen würde.
Aber die Lautsprecheransagen der Ringbahn rissen ihn stets aus seinen Träumen. Er war Berg, mit Frank hatte ihn schon lange niemand mehr angesprochen. Noch hatte er die Hoffnung nicht aufgegeben, doch er ihm war klar, dass er dafür abliefern musste. Abliefern bedeutete für ihn: Irgendwas aus dem Typen rausholen, der sich für einen Ermittler hielt oder den Typen, der sich für einen Ermittler hielt, zur Strecke bringen.
Frank Berg blickte sich um, ein paar Plätze von ihm entfernt schrieb der entrückte Dembowski jetzt in seine Kladde. Erst hatte Berg sich Sorgen gemacht. Seine Tarnung war nicht sonderlich gelungen. Aber für den „Ermittler“ reichte sein neuer Schnurrbart, reichten seine gefärbten Haare. Seit dem Dembowski den Umschlag in Empfang genommen hatte und im Gegenzug vom Heinrich-Czerkus-Gedächtnislauf berichtet hatte, blieb Berg keine andere Wahl. Er wollte erkunden, wer dieser Typ eigentlich war, was er tagsüber machte und ob diese Aktion nicht besser abgeblasen werden sollte, bevor Dembowski sein Budget verschlang, ohne auch nur eine nützliche Information zu liefern.
Aber in all den Tagen war wenig passiert. Am Anfang hatte Berg sich noch euphorisch an Dembowskis Fersen geheftet. Doch der wandelte scheinbar planlos durch die Stadt. Stieg bald in eine U-Bahn, nur um wenige Stationen später in die Tram und am nächsten Knotenpunkt in die S-Bahn zu steigen. Immer blickte er dabei aus dem Fenster, einmal verursachte er an einer S-Bahn-Station eine Massenschlägerei und Berg verlor ihn im Gemenge. Als er Dembowski das nächste Mal auf der Wollankstraße erblickte, hatte dieser seine Haare verloren, trug keinen Bart mehr. Er hatte ihn am Gang ausgemacht, doch weiterhin sprach Dembowski mit niemandem. Wenn Dembowski in einer Kneipe saß, er konzentrierte sich jetzt auf die Seitenstraßen, trank er glücklich ein paar Biere und schwieg die meiste Zeit. Hin und wieder machte Dembowski sich Notizen. Und hin und wieder bediente er die Jukebox.
Der Ermittler war ein Langweiler, ein Blender, ein armer Trinker, der versuchte, sein Leben irgendwie in den Griff zu bekommen und doch immer wieder daran scheiterte, wurde Berg bewusst. Und so hatte Berg sich irgendwann in seine Wohnung in der Schönhauser Allee zurückgezogen, es dort aber nicht ausgehalten. Im Fernsehen schwenkten die besorgten Kommentare von der Zypernkrise zur Nordkoreakrise, manchmal berichteten sie von den Münchener NSU-Prozessen. Er hatte gehofft, über Dembowski an Informationen zu gelangen, die eine Verbindung zwischen den Fußballfans und den NSU-Morden herstellen konnte. Doch lange schon war ihm klar, dass er auf den falschen Ermittler gesetzt hatte.
Einmal war etwas passierte. Erst war Dembowski nach Lichtenberg gereist und hatte dort wieder die S-Bahn in Richtung Westkreuz bestiegen. Am Ostkreuz hatte sich jemand zu Dembowski gesetzt und sofort ein Gespräch begonnen, sie schienen sich zu kennen und redeten mit gedämpfter Stimme, die von den Ansagen und dem Lärm der S-Bahn zum Großteil unverständlich blieb. Es schien sich jedoch eher um einen Spieler der Borussia zu drehen. Berg verstand nur „DerSamstag!“, „exklusiv“ und „wir bringen die Geschichte nur, wenn sie absolut wasserdicht ist. England. Das passt…..Der wird sich durchsetzen…..35 Millionen für den Polen könnte hinkommen…Ok, wir brauchen noch … Vertrag….unterzeichnet…danke B“
Draußen war die Grunerstraße im Schneeregen vorbeigeflogen. Berg am Alexanderplatz ausgestiegen. Es war hoffnungslos. Bis auf die neue Frisur war seit über einer Woche nichts passiert. Am Karsamstag nun also saß Berg in dem Café in der Schönhauser Allee. Bereits um 7 Uhr war auch der Ermittler dort eingetroffen. Berg blickte sich um und sah die großen Blätter. Dembowski schrieb und schrieb. Irgendwann sprang er auf, rannte aus der Tür und stellte sich auf die Straße. Er hielt ein Schild hoch. „Aufholjagd! Jetzt! Nur der BVB“
Dembowski hatte es endgültig verloren. Wenn er es jemals gehabt hatte.