Fußballfreier Tag, aber das war nicht wichtig, nicht von fundamentaler Bedeutung. So sehr diese EM mir auch in die Karten gespielt hatte, ich musste sie endlich offen legen. Die Sache zum Abschluß bringen. Ich wachte früh auf, setzte mich auf den Balkon, blickte auf den in sich ruhenden See. Von Westen war wieder Wind aufgekommen, die unteren Wolkenschichten bewegten sich rasant schnell, darüber die graue Lähmung und ganz unten im Schilf ein Graureiher. Wie er sich dort bewegte, sein Kopf alle paar Sekunden ins Wasser stieß und irgendwann wieder Ruhe war. Von unten holte ich mir einen Kaffee, nahm, während ich weiter abwechselnd auf den Graureiher im Schilf, dann in die Wolken und bald in die Ferne blickte, ein paar Schlücke.

Es würde ein Ende haben. Ich musste raus. Mich stellen. Letzte, wie man sagt, Einzelheiten regeln und allderweilen darauf hoffen, dass Dörte nicht wieder verschwinden würde. Sie war plötzlich, ohne Ankündigung aufgetaucht. An einem Ort, von dem ich zwei Tage vorher nicht hatten wissen können, dass ich ihn überhaupt besuchen würde. Sie konnte jederzeit einfach wieder aus meinem Leben verschwinden. War ich überhaupt hier? Was passiert war, erschien mir immer noch unwirklich. Schon seit ein paar Tagen hatte ich die Zeitungen nicht mehr nach Meldungen zum Unterwasseraquarium-Fall durchgeforstet. War es wirklich so passiert? Und wo zum Teufel steckte Piotr?

Noch einmal würde ich mich mit Redermann abstimmen müssen. Was genau musste er mir persönlich sagen? Was musste er mir zeigen? Mit einmal vermisste ich die Stadt, plötzlich überkam mich die Sehnsucht nach einem dreckigen Abend im Oldie-Eck, nach Ernte in Überfluss, nach dem faden Geschmack im Mund, nach den hämmernden Schläfen beim Aufwachen. Natur, Natur, Natur!, ich wiederholte die Worte auf dem Balkon sitzend, schrie sie in mich hinein. Nicht, dass ich Respekt vor der Stille des Morgens gehabt hätte. Nur durch das Nichtaussprechen der Wortfolge Natur, Natur, Natur konnte ich den Schmerz unterdrücken. Es kribbelte. Beton, Beton, Beton! Dreck, Schmutz, Verderben! U9, U8, M13! Osloer Straße, Oldie Eck, Soldiner Kiez. Meine Heimat. Meine ehemalige Heimat, sagte ich mir jetzt. Abschiede. Ein Leben voller Abschiede. Redermann, jemand musste mir zuhören. Jemand, der alles gesehen hatte. Jemand, der den Weg mit mir gegangen war.

„Redermann?“, Ernst hatte bereits nach einmaligem Klingeln abgenommen. „Ha, Dembo! Was macht Dein neues Leben? Beschaulich? Was macht die Liebe? Ich muss Dir was vorlesen, Moment, haha, Amok hat sich gemeldet. War das Trikot suchen ,sagt er und schreibt mir dann folgendes. Ich zitiere… “…. sind die Fluchtlinien der Sterne so ausgerichtet, dass sie ein, auf den Kopf gestelltes, gleichseitiges Dreieck ergeben, welches mit der unteren Spitze genau auf die Mitte des Vereinsemblems, also dem Herzen des Vereins, trifft. Jetzt könnte man natürlich denken “Na und?”. Und hier kommt…“

Hör Dir das genau an, Dembowski. Amok meint das wirklich so. Der schreibt das nicht nur zum Spaß. Du sagst, Piotr hätte ein Problem mit seiner Wahrnehmung. Hast Du Piotr und Amok eigentlich jemals in einem Raum gesehen? Vielleicht, aber hör weiter genau zu.

„…hier kommt Spekulationsraum ins Spiel. Ist mit dieser Symbolik die Troika gemeint, die uns diesen zweiten Stern ermöglicht hat? Die Hinweise verdichten sich, wenn man die Seitenlänge “c” des umgedrehten Dreiecks nach links in Richtung Kragen verlängert. Der Treffpunkt “Kragen” dieser verlängerten Linie ist klar zu erkennen. Der Hals…“

Dembowski, bist Du noch dran. Ich kann nicht mehr. Der macht noch weiter. Ich habe keine Ahnung, wovon er schreibt. Aber was nun folgt, hätte sich der Zahnarzt nicht ausdenken können. Amok lässt Dir übrigens seinen Dank übermitteln. Gut gemacht, brüllte er ins Telefon und sach dat auch dem Herrn Ermittler, dem piekfeinen Typen, der sich abgesetzt hat.

„… Und hier schliesst sich der Kreis. Die Anordnung der Sterne in dieser Form ist ein klares Zeichen der Dankbarkeit an die Führungsebene, die uns, nachdem uns das Wasser bis zum Hals stand, aus dem Schlamassel rausgeholt hat und in den letzten Jahren diese Entwicklung und die Erfolge ermöglicht hat. Ergo, PUMA hat sich da schon was bei gedacht.“

Nichts dabei gedacht aber hatte sich Redermann. Ich wollte das nicht hören. Nichts konnte mir momentan egaler sein als das Design der neuen BVB-Trikots. Wenn ich meine Situation richtig einschätzte, würde ich sie ohnehin nicht so schnell live sehen. Wut kroch in mir hoch. Steigerte sich. Luft holen. Auf den See schauen. Der Graureiher? Verdammt, der Graureiher war weg. Dörte? Sie lag noch im Bett. Zum Glück. Doch weiter: Wut!

„Sonst alles klar bei Dir, Ernst? Ich stecke in der Scheiße und Du liest mir hier Mails von Amok vor. Überhaupt Amok. Meldet sich monatelang nicht, und dann dieser Rotz mit den Trikots. Hat der keine anderen Probleme? Diese Konstrukteure gehen mir dermaßen auf den Sack. Immer gibt es irgendwo was zu ermitteln, immer müssen sie vorne dabei sein, immer müssen sie als erstes eine Meinung haben und diese dann rausposaunen. Die Konstrukteure sind das Internet unter den Geheimorganisationen. Können nichts für sich behalten. Können nicht einmal, wenigstens einmal, ihre Gedanken zu Ende denken!“ „Dembowski? Was hast Du denn jetzt schon wieder?“ „Ich sitze hier am See. Ich muss hier weg. Ich muss Dörte verlassen. Schon wieder. Um Dich zu sehen, sagst Du zumindest. Ich bin mir da nicht mehr so sicher. Du hast mir schon genug…Ach lassen wir das. Wann bist Du da?“ „Alles arrangiert. Amok, kommt mit. Er muss Dir was zeigen. Ich will Dich einfach noch einmal sehen. Die Bahn ab Warnitz fährt um 22.13 Uhr. Bist dann um 23.30 Uhr zurück im Kiez. Pass auf Dich auf. Und vermeide das Radabteil. Sie suchen Dich, Dembowski.“

Das alles machte die Sache nicht besser. Amok. Redermann. Die Suche. Ich musste reinen Tisch machen, Dörte musste mitkommen. Sie musste sehen, wie ich gelebt hatte, auf ein Bier ins Oldie Eck. Doch da war noch das Schraudershaus-Problem. Auch sie würde Fragen haben. Und sie würde auf mich warten, darauf konnte ich Gift nehmen. Dörte ließ sich schnell überzeugen. Auch der Schraudershaus würde ich für einen Tag aus dem Weg gehen können. Dörte buchte uns auf der anderen Seite in ein Hinterhofhotel ein. Der Prenzlauer Berg. Eine Seltenheit meiner Berliner Zeit. Doch jetzt die letzte Atempause vor Bad mit Haien.

Die Fahrt verlief ruhig, die Schlüssel waren in einer Sauna hinterlegt. Am Morgen stellte ich mich auf die Gleise und blickte in Richtung Westen. Diese Tramlinie, da war ich mir sicher, würde über mein Schicksal entscheiden. Ich konnte nicht einmal sagen, warum ich mir so sicher war. Doch tief in mir spürte ich es. Ich weckte Dörte, eine der gegenüberliegenden Hinterhofwohnungen füllte den Hof mit Metal, aus einer anderen Richtung vernahm ich Kindergeschrei. Die Flugzeuge konnte ich von hier nicht sehen. Der Verkehr auf der Bornholmer Straße stockte zwei Hoftüren von hier. Auf der anderen Straßenseite war der Eingang zum Heiligtum der Berliner Konstrukteure. Ich musste weiter vorsichtig sein.