Der Schlaf jedoch ist nur von kurzer Dauer, gegen 4 Uhr klingelt das Handy. Piotr ist dran. Er sei gerade erst aus Danzig eingetroffen, dort, so Piotr, hätte es dringenden Gesprächsbedarf gegeben, meine überstürzte Ankunft, erläutert er, hätte ihn auch einigermaßen überraschst. Was denn plötzlich in mich gefahren sei, will er wissen. Doch erst einmal verabreden wir uns oberhalb des Strands am Ende der Jana Jerzego Haffnera, dort also, wo wir uns vor Jahren zum ersten Mal getroffen hatten. Ich war auf der Durchreise, und doch ohne Ziel nach Polen gekommen. Es hatte mich in das orangene Zimmer verschlagen, in dem ich nun auch wieder untergebracht sein würde. Zumindest für diese Nacht.

Piotr, ein Student der Meeresbiologie an der Universität von Danzig, arbeitete damals im Hotel und wohnte im Studentenwohnheim an der Armii Krajowej. Er war in meinem Alter, und doch fanden wir uns damals schon an den anderen Enden der Parabel wieder. Immer gut gekleidet, knapp 1.80 groß, schon damals meist mit Anzug unterwegs, wenn er nicht gerade vom Meer kam, sonnengegerbte Haut, ein großer Speedwayfan. Nach der ersten großen Tour im Sommer 2000 trafen wir uns häufiger. Wir besuchten gemeinsam die Spiele von GKS, die auch Anfang des Jahrtausends zwischen den Ligen pendelten. Ein Spektakel sondergleichen. Die Turffahrer, die mit vodkabedingten Ausfallserscheinungen und in der Folge auch mit den Anfeindungen der Fankurve zu kämpfen hatten und stets die beste Unterhaltung garantierten. Wir verbrachten ein paar Wochen auf Hel und einige Zeit in einer Berghütte bei Zakopane. Good times! Piotr hatte sich mir in all den Jahren jedoch angenähert, er hat sich auf das Verschwinden konzentriert und seine Arbeit an der Universität Gdansk bereits seit einigen Jahren ruhen lassen.

„Wir sollten sofort loslegen“, erklärt mir Piotr, während wir bei Sonnenaufgang auf der Terrasse sitzen und die Danziger Bucht überblicken. In Sopot, macht er mir klar, wird sich nichts ergeben. Er zeigt mir wieder seine Unterlagen, die Spuren führen nach Ruciane-Nida in die Masuren. Dort hat Piotr zwei Zimmer im Hotel Nidziki gebucht. Von dort würden wir unsere Ermittlungen führen. Ob sie mich wirklich voranbringen und von der Last befreien können? Der Zug verlässt Sopot um 11.53 Uhr, über Danzig geht es immer weiter östlich, immer näher an das Ende der westlichen Welt. In den Zügen der PKP lassen sich die Fenster noch bis nach unten ziehen, wir lassen uns den Wind um die Ohren knallen, ich genieße die ostpommersche Einöde, wir lassen Elblag im Norden liegen und gelangen über Malbork, Pikus und Biesal nach Olsztyn. Die Landschaft wird immer waldiger, große Seen säumen unseren Weg. Wir reden wenig, ich hänge meinen Gedanken nach. Was zum Teufel hat mich getrieben, hier die Antwort auf eine meiner großen Fragen zu finden? In diesem von allen Menschen aufgegebenen und verlassenen Landstrichen? In Olsztyn bleibt uns wenig Zeit und doch werde ich auf dem Bahnhofsvorplatz eine ganze Schachtel Ernte los. Hier hat sich in den letzten Jahren wenig verändert.

Im Zug in Richtung Pisz sucht Piotr wieder den Kontakt. Nach 6 Jahren haben wir uns wenig zu sagen, er scheint erschüttert von meinem Werdegang. „Du hattest alles“, wiederholt er immer wieder kopfschüttelnd „und jetzt redest Du von diesem Reiser, von Ritchie und von einer Wentraud. Die Kneipe und Deine Erdgeschosswohnung sind Deine Koordinaten. Vielleicht kann ich Dir wieder auf die Sprünge und in die Spur helfen? Ich bete für Dich, so wie ich für die Verschwundenen bete.“ „Ach schau Dich doch an“, halte ich ihm entgegen „vom Meeresbiologen zum Verschwundenenbeauftragten, ist es das was Du vor 10 Jahren wolltest? Es sind nicht die Träume, die Du mir vor 10 Jahren verkaufen wolltest. Auch Du, mein Freund Piotr hast Dich verändert. Die Zeit verändert Dich, das Leben ist unser Feind. Vielleicht können wir ihn besiegen? Vielleicht hilft Dir die Lösung auch weiter?“ Wir schweigen uns weiter an, kurz hinter Jeruty wartet der Zug an einem Bahnübergang. Mit 15 Minuten Verspätung erreichen wir um 17.58 Uhr Ruciane-Nida. Eine gute Stunde später sind wir endlich im Hotel angekommen. Nach einem Schnitzel auf der Seeterrasse lege ich mich früh schlafen. In drei Tagen aus der Nordstadt nach Ruciane-Nida. Was wird mich hier erwarten?