Die EM ist  vorbei, wenn Du es willst, dachte ich mir, immer  im Aufenthaltsraum sitzend. Ich starrte auf die Ostsee, zählte die Sekunden zwischen den einzelnen Wellen, versuchte einen Zusammenhang zwischen der Ostsee und dem flackernden Neonlicht herzustellen. Ich nahm noch einen Schluck Bier. Ich trank wie immer. Nicht um zu vergessen, das hatte ich schon längst, sondern um zu denken. Das zumindest dachte ich mit dem Bier in meiner Hand. 
Über die Anlage dröhnten die Rocket From The Tombs. No place to run, no place to hide, no turning back on a suicide ride. Ich fühlte mich beschissen. So mehr Bier ich in mich hineinkippte, so dringender war mein Wunsch, diesen Ort zu verlassen. Wenn nur Redermann meine Hilfeschreie erhören würde. Wenn, ach. Es war ausweglos. Ich hatte den point of no return längst überschritten, das war mir bewußt, so wie mir bewußt war, das ich es hier mit einem Haufen Psychopathen zu tun hatte, die alles dransetzen würden, mich endgültig auf Linie zu bringen. 
Weiterhin keine Spur von Piotr. Das Spiel Ukraine gegen Frankreich begann, endete bald im Regenchaos. Wir hatten wieder die ZDF-Bilder angezapft. 30 seconds and a one way ride! David Thomas, der so viele Namen trug, dem ich einmal an einem Berliner Flughafen begegnet war, der dort ein schwitzender alter Mann war, der sich an einem heißen Sommertag 2006 mit Pressevertretern verabredet hatte. Why I Hate Women, hieß sein Album damals. Meins würde “Why I Hate Tomasz” heißen. Der sprang völlig aufgeregt durch den Raum, deutete immer wieder in Richtung Leinwand. “Haha. Der Piotr! Jetzt tanzt er mit den Franzosen!” Und tatsächlich, da lief er durchs Bild. Da stand er vor Bela Rethy, wurde als schweigender polnischer Kollege vorgestellt. Rethy war sauer, und sprachlos. Ich betrunken. Tomasz euphorisch. Winowski in Lehrbücher vertieft. An der Wand lehnte das Gewehr. Für einen kurzen Moment….. 
Aber hilft nichts. Ich musste einen anderen Weg finden. Der totale Stillstand hier unten wurde nur noch durch die Trägheit des Berliners getoppt. Er schrieb jetzt über Hunde und Staatspräsidenten. Das hatte mit Fußball nichts zu tun. 

EM – Tag 8
Die Strassen Berlins

Am achten Tag sollst Du ruhen. Zumindest nachdem ich tagsüber durch die schwüle Berliner Luft fuhr. An der Ecke Alt-Moabit / Gotzkowkystraße läuft mir ein geschlagener, in die Jahre gekommener Pudel ins Fahrrad. Abstoppen. Die drohende Faust in Richtung Besitzerin ausstrecken und mein übliches “Das hier ist ein verdammter Radweg” schreien. Noch einmal blicke ich auf den Bürgersteig. Aus irgendeinem Grund ist hier in der Tat nur Bürgersteig. “Meine Schuld, aber den Hund…” Die Fußgängerin hat da bereits abgedreht.

Die Bundesallee runter geht es in den Berliner Süden. Hin und wieder sind italienische Pizzabuden, die mit Dönerangeboten werben, mit der deutschen Fahne beflaggt, und manchmal sieht man sogar Autos mit Fähnchen. Doch auch hier, abseits des Ku’damms, hält sich die EM-Euphorie immer noch in Grenzen. Auch die Schöneberger Hauptstraße bietet ein ganz ähnliches Bild. Manchmal ist da eine Kroatien-Fahne, manchmal ist da eine Deutschland-Fahne, manchmal sind beide Fahnen an einem Auto befestigt. Nichts von Interesse.

Die Fahnmeile auf der Straße des 17. Junis wird tagsüber gerne als Fressmeile genutzt. Die Bierbuden, die Bratwurststände. Geöffnet. Auf den Monitoren flackern die Scripted Reality Shows des durchschnittlichen Nachmittags. Davor stehen ein paar Verirrte, essen Bratwurst, blicken hoffnungsvoll auf die große Leinwand. Hier, denken sie, möchte ich beim Emfpang der deutschen Natonalmannschaft sein. Hier werden sie den Titel feiern. Es ist bereits ausgemacht, dass die Generation um Podolski, Schweinsteiger und Lahm in diesem Jahr ihren Titel gewinnt. Golden wird, bevor sie in ihre Einzelteile zerfällt. Dann wird hier auf der Fanmeile natürlich ausgiebig gefeiert.

Doch hinter dem Brandenburger Tor, auf der Ostseite, lauern bereits die Spanier. Ohne Paule, dem deutschen Maskottchen, nur eines Blickes zu würdigen, schlendern sie vor dem Brandenburger Tor auf und ab. Ein paar Meter weiter lässt sich eben jener, von den Spaniern nicht beachteter Paule mit Fans der Nationalmannschaft ablichten. Doch bereits ein paar Meter weiter, vor dem Adlon, gibt es keine EM mehr. Dort residiert Blaise Compaoré, der Präsident von Burkina Faso. Der Platz vor dem Adlon ist abgesperrt, ein paar Kamerateams, eine Motorradstaffel der Berliner Polizei, ein paar Afrikaner und ein ganzer Haufen Touristen, warten auf die paar Momente zwischen Adlon und Auto.

Die Spiele will ich daheim schauen. Auf dem Heimweg, endlich! will ich schreien, sehe ich zwei Twens mit Ghettoblaster, Deutschland-Fahne und Bierkasten. Ein paar Meter radel ich neben ihnen her, überhole dann, genervt vom Geplärre des Ghettoblasters. Als Bela Rethy vom Abendessen erzählt, die Blitztabelle erklärt, falle ich in einen Tiefschlaf. Gegen 5.30 Uhr wache ich auf, schaue mir die Tore in der Mediathek an. Draußen regnet es. Endlich Wochenende.