“Hast Du überhaupt einen Plan, was heute für ein Tag ist?” Winowski ging mir mittlerweile wirklich auf den Sack. Wenn wir nicht an unserem Projekt saßen, schwieg Tomasz, rauchte ich und Winowski redete und redete. “Das mit Dörte, das müssen wir noch einmal besprechen. Das mit Dörte, hast Du Piotr da verstanden? Das ist von fundamentaler Bedeutung für Dich!” Dörte war weg, ich im Unterwasseraquarium gefangen, über mir turnten KMH und Oliver Kahn über die Seebühne im Ostseebad Heringsdorf, die EM war mittlerweile im vollen Gange, ich versauerte irgendwo unter der Wasseroberfläche, hörte mir das stumpfe Gerede von Winowski, meinem Psychologen, an. Die einzigen Informationen, die ich zum Leben außerhalb des Unterwasseraquariums bekam, waren von einem Typen, der durch Berlin irrte, und sich die Spiele an Orten anschaute, für die er am Ende des Tages nichts als Verachtung übrig hatte. Die Sommerpause war schrecklich. Aber noch waren es über 2 Monate bis zum Beginn des Ligaalltags.

Ich zerrte weiterhin von den Erinnerungen an große Saison 2011/2012. Während ich also rauchte, mir das Schweigen von Tomasz, das Gequatsche von Winowski anhörte, mich fragte, wo es Piotr hinverschlagen hatte, dachte ich all die Zeit an die großen Spiele der Saison 2011/2012. Der Lange, der so bescheiden im Hintergrund agierende Punktelieferant, hatte einen großen Anteil am Titel. Niemand hatte es ihm gedankt, er aber auch keinen Dank erwartet. An den stillen Tagen unter der Woche versorgte er mich mit Musik, nicht mit Punkten. In seinem Herzen waren die richtigen Dinge verankert. Heute hatte er Geburtstag, doch hier unten wußte das niemand. Und hier unten konnte ich ihm nicht gratulieren. Ich war von jeder Kommunikation abgeschnitten. Den Schlüssel dazu hatte Tomasz, der mir jedoch nur die aus Berlin eintreffenden Nachrichten übermittelte. “fyi”, wie er über jede Weiterleitung notierte. Die Texte wurden von Tag zu Tag mieser, substanzloser, inhaltsleerer. Wer immer das schrieb, er musste sich aus Mitte wegbewegen, wollte er wirklich gute Texte schreiben. Doch nicht einmal das konnte ich ihm sagen. Wie ich auch dem Langen nicht zum Geburtstag gratulieren konnte. Im Aufenthaltsraum fand ich ein altes Leeroy Stagger-Album, legte “A Hundred Million Reasons” auf, nahm einen Schluck Vodka und las den Text aus Berlin. Happy Birthday, Langer! 

EM Tag 3 / Ick koof mir Dave Lombardo wenn ick reich bin / Zionskirchplatz / Mitte / Gruppe C: Spanien – Italien

Mit Unterstützung des Dezernats für Rockerkriminalität ermittelt die Berliner Mordkommission im Falle des in Neu-Hohenschönhausen niedergeschossenen Bandenführers. Langsam, denke ich, ist es Zeit für eine Verfilmung, für eine TV-Serie sopranoschen Ausmaßes und bin dennoch froh, dass ich an der Mein Bart Für Deutschland-Aktion teilnehme. Für langhaarige Bartträger in Lederjacke wird es in Berlin ungemütlich. Das aber ficht das Mitte-Publikum am Zionskirchplatz wenig an. Eine andere Stadt, ein anderes Leben, in dem der Bart akkurat gestutzt, die Hornbrille penibel ausgerichtet, die Frisur auf Länge ist.

Zwischen den Bierbänken und den Tischen des Dave Lombardo schneidet sich eine schmale Gasse. Ein paar Minuten vor Anpfiff sind die Außenplätze bereits gut belegt. Von der Kastanienallee kommend taucht ein Mann mittleren Alters auf. Zwischen all den bärtigen, leicht in die Jahre gekommenen Mitte-Hipstern fällt er sofort auf. Er schaut sich um. Macht einen leichten Schritt nach links. Greift die Plastiktüte in seiner rechten Hand noch ein wenig fester. Bald holt er Luft und fasst sich ein Herz. Wankenden Schrittes durchschreitet er die Gasse, hebt dabei seine Hand zum Gruß. Niemand grüßt zurück. Er verschwindet um die Ecke.

“Ist doch schön, dass es die Leute hier auch noch gibt”, sagt jemand neben mir. Weniger sagt die Barkraft. Ich habe mein Bier auf die Bank vor mir gestellt. Diese soll jetzt um eine weitere Bank ergänzt werden, deutet der schweigende Mitarbeiter mit einer Bierbank in der Hand an. Nach endlos langem Schweigen hat er mich überzeugt. Die Bank steht. Danach baut er hinter mir, genau in der Kurve, nur wenige Zentimeter von den Tram-Gleise entfernt weitere Sitzgelegenheiten auf.

Das Spiel beginnt mit minutenlangem Glockenläuten der Zionskirche. Mit einiger Verzögerung entwickelt sich ein sehr ansehnliches Spiel. Im Dave Lombardo, in dem sich auch ein paar Italiener und Spanier eingefunden haben, die jedoch betont lässig ohne Trikots oder sonstige Fan-Utensilien das Spiel verfolgen, wird Balotelli direkt zum Man Of The Match erklärt. Noch während Balotelli auf dem Platz steht, muss die Barkraft Anfang der zweiten Halbzeit doch noch reden. Die Polizei ist angerückt. Die Bierkästen müssen weg, die Fahrräder müssen weg, es ist zu gefährlich, sagen sie, schreiten dabei den Bordstein ab. Ihr Wille geschehe. In vier Minuten fallen zwei Tore. Erst jubeln die Italiener in der Mitte, danach jubeln die Spanier vorne. Auf der Straße rauscht ein Polo mit sieben Mann an Bord vorbei. Auf dem Platz versemmelt Torres Chance über Chance. Es bleibt beim 1-1.

Auf dem Heimweg komme ich an der Max-Schmeling-Halle vorbei. Der Bus der deutschen Volleyballnationalmannschaft wartet auf die Spieler, die sich mit einem 3-1 über Tschechien soeben für Olympia qualifziert haben. Einige der Spieler stehen in einer Menschentraube vor dem Bus. Sie sind umringt von langbeinigen Frauen. “Volleyballer müsste man sein”, erklärt meine Begleitung. Ein paar Meter weiter stehen die geschlagenen Kubaner vor einem Kleinbus mit der KFZ-Kennung TIR. “Vielleicht kein Kubaner”, ergänze ich.