Dienstag, kurz nach 22.30 Uhr. Ich sitze auf dem Vorplatz des Westfalenstadions. Aus dem Stadion knallt mir eine Explosion um die Ohren, noch nicht wirklich laut, über den Jubel schreit Dickel „und weiter Jungs, weiter Jungs!“ Meine Hände sind hinter dem Kopf verschränkt. Im Schneidersitz beobachte ich die ins Stadion stürmenden Massen. „2-2, sie machen immer das 2-2, wenn sie eigentlich ein 3-2 brauchen“, denke ich und stehe langsam auf. Schreite in Richtung Reitstall, ganz langsam, ein paar Bierflaschen liegen auf dem Boden, Becher wehen über den verwaisten Vorplatz, von innen höre ich nichts mehr. Manchmal wird es laut. Meine Hände sind hinter dem Rücken verschränkt, ich blicke auf die Erde, auf die Hecken zum ehemaligen Sportplatz, der schon lange ein Parkplatz ist. Der Traum ist aus und natürlich hatte es so kommen müssen.
Meine Heimspielbilanz in dieser Spielzeit war mehr als bescheiden. Es lag nicht nur an meinen wenigen Besuchen im Westfalenstadion, sondern auch an den an diesen Tagen außerordentlich schlechten Leistungen der Borussia. Natürlich: Das 2-1 gegen Madrid hatte ich gesehen, aber sonst war da nur Dunkelheit. Ein katastrophale, verschüchterte Leistung im Derby, ein Schlachtfest gegen den HSV, der ohne die beiden Siege gegen uns im Abstiegskampf eine gewichtiges Wörtchen mitsprechen würden, sich aber mit 7-3 Toren und 6 Punkten in den Spielen gegen die Borussia den Klassenerhalt gesichert hatten.
Noch bevor ich mich in den Zug nach Dortmund gesetzt hatte, war ich voller Zweifel. Würde es nicht reichen, wenn ich mir das Spiel in der Kneipe anschaute. Ich hatte mir beinahe die komplette Saison in der Kneipe angeschaut und es war überhaupt nicht verkehrt gewesen. Augsburg, wer war schon Augsburg?, am Wochenende zuvor hatte ich ausgelassen. Ich wusste nicht mehr genau, was passiert war. Doch an diesem Samstag war es mir nicht gelungen, nur einen Fuß vor die Tür zu setzen. Ermattet, ohne auch nur einen Resthauch von Energie, hatte ich die Meisterschaft der Bayern im Radio verfolgt. Sie erzählten etwas von Wachablösung und ich wusste nicht mehr, ob es stimmte oder ob die vorbestimmte Meisterschaft der Bayern nicht etwas von Normalzustand hatte und sich die Wachablösung nunmehr auf Europa beziehen konnte. Dort, dachte ich auf dem Bett liegend, waren wir weiter die Underdogs, die, die man nicht wahrnahm, ein wenig für ihr tolles Spiel bewunderte, aber ansonsten eben weitestgehend belächelte. Wie 2010/2011.
Nur in Europa. Schauen was dabei rauskommt, die Worte von Klopp hallten nach. Aber ich hatte im Bett gelegen, gelähmt, konnte mich nicht bewegen. Die Aufregungen der letzten Wochen zerrten und zogen an mir. Schwankungen. Tendenzen, die mir nicht gefielen. Wohin mit Dir, Dembowski, fragte ich mich im Bett liegend, den letzten Minuten in Frankfurt lauschend. Und was wird mit Dir, Dembowski, wenn Du mal irgendwo bist? Wirst Du jemals ankommen? Wirst Du Dich immer bewegen, weil woanders immer besser ist, woanders immer verlockender klingt. Verlockender als die Realität, in der Du Dich bewegst, in der Du für immer ein Getriebener Deiner eigenen Unrast bleiben wirst, Dembowski, fragte ich mich und in Frankfurt hatten sie das Spiel beendet.
Ich schaltete das Radio aus und legte King Krule auf. Rock Bottom. An alten Hafenanlagen stehen, weniger Bewegung. Gedanken lüften, am Fenster stehen, zur Ruhe kommen. Lange schon hatte ich es nun versucht, und für viel zu lange war ich daran gescheitert. Dieses Unbehagen, diese Wörter die mit „Un“ anfingen und immer fatal endeten. Ich war zum Kotzen, dachte ich. Was würde schon passieren? Nordstadt, Hafen, Petroleumhafen, dachte ich. Eigentlich alles, was ich jemals hatte sehen wollen. Stattdessen. Wedding, Soldiner, Oldie-Eck. Und manchmal Dörte, Lama, Oderbruch.
Der Erlöser hieß Redermann und trat in Form eines Anrufs in meine Misere. „Dembo, komm runter. Wir machen das. Spanien ist immer auch La Coruna“, sagte er. „La Coruna wird immer in Spanien liegen, das ist klar. Aber was hat das mit DerSamstag! zu tun?“ „Kannst Du das einmal vergessen. Einmal Deine Rise + Fall Geschichte. Einmal Fußball schauen, um Fußball zu schauen, und nicht Fußball schauen, um Geschichten zu schreiben, sondern Fußball schauen, um beim Geschichte schreiben dabei zu sein.“ „Ich komme schon. Aber was soll das Gestichel?“ „Dembowksi, get a life!“
Meine Tasche hatte ich schnell gepackt. Mit dem ICE ging es in die Stadt, die Fußball war. Die nächsten beiden Tage versumpfte ich mit Redermann in der Erdgeschosswohnung, und was er auch sagte, es richtete mich nicht auf. Denn im Grunde hatte Redermann mit seinen Vorhalten pausenlos recht. Es ging weiter. „Unverständnis“, „Unvermögen“, „Unruhe“, „Unrast“, „Unstetigkeit“, „Unglaublich“, „Unterzahl“. Ich konnte es nicht mehr hören. All derweilen knallte mir Redermann seine furchtbare Musik um die Ohren.
„Wenn wir ins Halbfinale kommen, muss es Real sein. Hör Dir das an, man!“, schrie er und legt zum hundertsten Mal „Got to be real“ auf. Und so oft ich ihm auch erklärte, dass „real“ hier eine andere Bedeutung hatte, ließ er sich nicht von mir abbringen.
Und ich erzählte ihm von den Marketingstrategen, die sich diesen Claim angeeignet hatten und davon, dass es eigentlich John Lennon war, der in dereinst erfunden hatte. Und Redermann sang: „Eine Abwehr aus Granit, so wie einst Real Madrid und so zogen wir in die Champions League ein“ Und ich schwieg und Redermann sang und ich drehte durch und so wurde es Dienstag.
Redermann war mir so auf den Sack gegangen, dass ich ihn noch weit vor den Stadiontoren abschütteln konnte. Sein unendlicher Optimismus, seine Leidenschaft, seine Zielstrebigkeit – mir war das rätselhaft. Denn Nordstadt, Hafen, Petroleumhafen klang auch nur aus der Ferne gut, musste ich mir eingestehen und mischte mich unter die Malaga-Fans auf dem Alten Markt. Sie erkannten mich, schossen ein paar Bilder mit mir. „Der Ermittler!“, bewunderten sie mich und erzählten mir meine Geschichte, die ich längst vergessen, oder zumindest in Teilen verdrängt hatte.
So von den Andalusiern mit meiner eigenen Vergangenheit konfrontiert, zog ich mich zurück, schlich mit gesenkten Schultern den Weg zum Westfalenstadion hoch. Den Weg, den ich seit Hamburg nicht mehr gegangen war. Der Weg, der nichts weiter als der Weg zum Ende aller Träume ist, dachte ich, mich am Anstieg im Klinikviertel abmühend. Hin und wieder traf ich auf eine paar Fans, die mit Fantasieergebnissen hantierten und die Borussia mit 4-1, 5-0, 2-0, 3-1 ins Halbfinale einziehen sahen. Doch ich dachte an Hamburg, das Derby, meine fatale Bilanz. Ich war mir selbst zuwider.
Irgendwann im Stadion. Sitzer, der zum Steher wurde. In der Südwestecke. Vor mir ein paar Leute, deren grenzloser Optimismus nur schwer erträglich war. Wie kommen wir nach London? Mit dem Bus! Wie kommen wir nach London? Es waren keine 20 Minuten gespielt und bis auf einen banalen Lewandowski-Heber war da nichts. Malaga stand gut und tief, Borussia war ohne Inspiration, Bender grottig, der Rest nicht viel besser. Ich ließ meinem Unmut freien Lauf. Sie würden es verkacken. Ohne Wille. Ohne Inspiration. Diese Mannschaft lebte von ihrer nicht wirklich grandiosen Vergangenheit und hatte ihre Zukunft, die sie nie hatte, bereits hinter sich. Das 1-0 registrierte ich mit einem Kopfschütteln, die Typen vor mir fanden es nicht so schlimm und als Lewandowski traf, sprangen sie mit voller Kraft voraus in mich rein. Drückten mich gegen meinen Sitz, schlugen mit der Faust vor meine Brust, schrien mir ihren Frust über das Spiel der Borussen ins Gesicht. Sie waren verloren und wollten es sich nicht eingestehen.
In der zweiten Halbzeit passierte wenig. Götze, Reus, kläglich. Klopp mit der Schieber-Taktik, Malaga mit dem 2-1. Vorbei der Traum. Wie erwartet. Reus haute noch einmal einen Freistoß über oder neben das Tor, es machte keinen Unterschied mehr. Wachablösungen, die es nie gegeben hatte. Teil XXIX. Aus dem Augenwinkel sah ich Hummels aufs Feld laufen. Nicht der auch noch, dachte ich und trat durch das Mundloch in den Umlauf und rannte so schnell ich konnte in Richtung Ausgang. Nur raus. Und nie wieder zurück.
Dienstag, kurz nach 22.30 Uhr. Ich sitze auf dem Vorplatz des Westfalenstadions. Aus dem Stadion knallt mir eine Explosion um die Ohren, noch nicht wirklich laut, über den Jubel schreit Dickel „und weiter Jungs, weiter Jungs!“
Kurz vor dem Reitstall höre ich es, die Anspannung des Stadions brandet in Richtung B1, schallt von dort zurück und mir direkt in die Ohren. Zeitgleich setzt die absolute Stille ein. Die letzte Chance! Vergeben! Denke ich und fühle mich bestätigt. Bis es passiert. Der Jubel, der alle Jubel schlägt. Wie in Zeitlupe drehe ich mich um, ein Bierbecher rollt im Abendwind über den Vorplatz und es wird nicht ruhiger, lauter, immer lauter wird der Jubel, der nichts mehr mit irgendwas zu tun hat. Der Jubel, über den sich jetzt Dickel legt.
Am Reitstall bestelle ich mir ein Bier.