Das Kottbusser Tor sah Dembowski gegen Mainz nicht. Ein alter Bekannter hatte sich gemeldet. 

In den letzten Tagen konnte man mich hauptsächlich im kleinen Grünstreifen an der Panke sehen. Ich hatte mein Büro ausgelagert, Wasserflaschen, Stullen und Zeitungen eingepackt. Und so hatte ich dort gesessen und beobachtet, wie die Kleidung kürzer, die Bäume grüner und das Leben leichter wurde. Es war still geblieben und umso weniger ich mich mit irgendwelchen Schlagzeilen befasst, umso ruhiger war ich geworden. Es lief alles auf ein paar letzte ruhige Tage im April hinaus. In der Champions League hatte Borussia alles gewonnen, und konnte nun nicht mehr verlieren. In der Bundesliga hatte Borussia keine Sorgen mehr, und die amüsanten Streitigkeiten der großen Vereine, die Blauen, die immer wieder versuchten, mit gewagten Thesen sich eine eigene Augenhöhenrealität zu schaffen, waren nichts weiter als amüsante Streitigkeiten.

Ich hatte von Smudos neuestem Streich gelesen, und für einen Moment war ich wieder in dem Schuppen in Scharnhorst. Eine Quetschkommode in der Hand, „Wie Einst Die Susi Zorc“ singend und mich schon wieder im späten Mai auf dem Friedensplatz sehend. Ich hatte die Melodie gesummt und mich erinnert.

„Im Herzen Westfalens, dort im Stadion, spielt eine Mannschaft, spielt sie ganz groß auf, so wollen wir sie wiedersehn, auf dem Friedensplatz soll sie stehen , wie einst die Susi Zorc, wie einst die Susi Zorc“

Die Unschuld, die wir in uns trugen. Die unglaublichen Jahre, die damals noch vor uns lagen, die Andeutung der großen Dinge, die Verheißung einer Mannschaft im Entstehen. Damals im Januar 2011 hatten wir überhaupt keine Ahnung, wie wir über zwei Jahre später dastehen würden. Wie sich auch unser Fandasein durch die Erfolge, durch die überwältigenden Spiele der Borussia verändern würde. Wir waren kleine Kinder, die ihren Glauben noch lange nicht verloren hatten. Wir waren uns sicher, dass wir niemals anders werden würden. Wir wussten unter welchen Umständen wir groß geworden waren und würden niemals mehr so werden, hatten wir uns gesagt.

Bislang hatten sich die Fans der Borussia ganz gut geschlagen, dachte ich. Natürlich waren in den Zeiten des Erfolgs ein paar neue Fans hinzugekommen, waren unter diesen neuen Fans auch ein paar Schmeißfliegen, die bald weiterziehen würden, aber wirklich entfernt hatten wir uns nicht. Wir trugen alle, da war ich mir auf der Bank im Soldiner Kiez sitzend, immer noch diese kindliche Begeisterung in uns und wir trugen alle auch die Angst der 00er-Jahre in uns. Eine ganze Generation von Fans war mit der Gewissheit und der ständige Angst vor dem letzen Spiel der Borussia aufgewachsen. Wir hatten uns verändert, keine Frage, aber wir trugen diese Demut in uns und wir würden, nach dem wichtigsten Tag der Klubgeschichte, immer den 14. März 2005 nennen. Alles was danach kam: Bonusprogramm. Wir hatten alles verloren, nur um wieder alles gewinnen zu können, dachte ich im Sonnenlicht auf der Bank an der Panke sitzend.

Bedeutungsschwangere, mich unendlich nervende Gedanken, die ich auf den Wasserkonsum zurückführte. Ich war lange noch nicht in der Realität angekommen, war an einem Dienstag im April hart gelandet, und bislang nicht annähernd aufgestanden. Versuchte mir durch die Einordnung meiner Fankarriere selbst eine Perspektive zu geben. Die hatte ich jedoch im Umlauf des Westfalenstadions gnadenlos verzockt. Ich verachtete mich dafür, wollte mich jedoch weiterhin als Teil des Vereins sehen. Aber der Verein war nicht mehr Folklore. Und ich war nicht mehr der Typ, der in Scharnhorst auf der Lauer und „Wie Einst Die Susi Zorc“ gesungen hatte.

So war das und das Handy in meiner Tasche klingelte seit gefühlten 10 Minuten. Über das Gedankenrauschen und das Dröhnen der landenden Flugzeuge hatte ich es schlichtweg nicht wahrgenommen. Ich hätte einfach weiterdenken sollen. Doch es war Samstag, Mittagszeit und ich dachte nicht mehr. Und ging ans Telefon.

„Sprech ich mit Dembowski?“

Die Stimme kam mir wenig bekannt vor. Ich sagte ihm, dass das gut sein könne. Aber ich mir selbst nicht so sicher sei.

„Dembowski, also. Dietfried, Du wechselst Deine Nummer nie.“

Mir dämmerte es.

„Wir haben ein Büro. Komm vorbei. Unten am Schönhauser Tor. Im Vorderhaus.“

Ich blickte kurz auf die Uhr, 13.25. In zwei Stunden begann der Kick gegen Mainz. „Treffen wir uns in der Kneipe“

„Niemals. Du kommst vorbei. Du willst doch nicht ernsthaft das Spiel sehen. Ihr werdet gewinnen. Frühes Tor von Reus. Überhaupt keine Frage. Kannst Du mir glauben. Aber wir haben wirklich ein Problem. Der Pole macht Probleme.“

Ich verstand. „Ok. Ich bin in 30 da“

Ich packte meine Sachen, rannte kurz in die Wohnung, dann in Richtung U8. Ich sah die Menschen mit ihren American Apparel-Tüten, ihren Zalando-Paketen, ihren Nike-Schuhen, sah die Touristen mit ihren Stadtplänen auf dem Weg „to feel the history“ und hörte die Motz-Verkäufer ihre Waren anpreisen. Ich war eher auf dem Weg „to feel the pain“. Und auf dem Weg das Dortmund-Spiel zu verpassen. Nichts ging mehr, aber es klang dringend.

Am Rosenthaler Platz stieg ich aus und ging über die Torstraße in Richtung Schönhauser Tor. Hier erinnerte nur noch wenig an die längst vergangenen Tage der 00er-Jahre. Hier reihten sich Store an Store und Edel-Schneider an Edel-Bar. Die Currywurst, die sie hier verkauften, war nicht nur überteuert, sie schmeckt nicht einmal besonders gut, wie ein Viktor Ikpeba nach seinem Transfer zur Borussia. Die Torstraße war dem Untergang geweiht. Ich hoffte, dass ich es nicht war.

Das Gebäude war ein normales Wohnhaus im Trouble der unteren Schönhauser Allee. Gegenüber prangerte die chinesischen Letter der amerikanischen Burgerbude und weiter oben thronten sie über ihren überteuerten Pizzen, die von schlecht gelaunten Kellnern auf die Sonnenterrasse oberhalb der Schönhauser getragen wurden. In den letzten Jahren war es hier unerträglich geworden, die letzten Eckkneipen zugunsten der kapitalträchtigen Ausgehkultur verdrängt worden.

Neben dem Gebäude saßen die Leute auf dem Bürgersteig und verköstigten italienische Spezialitäten, immerhin seit Jahren. Ich drückte auf die Klingel. „Bersen“, hatte man mir gesagt. Der Hausflur war mit schlechten Graffitis übersät, es stank nach den Überresten der letzten Partynacht. Durch eine Stahltür trat ich seitlich in den Treppenaufgang. Nach einer weiteren Tür am obersten Ende des ersten Absatzes ging es vier weitere Stockwerke hoch.

Die Tür war bereits geöffnet. Ich trat in eine Diele, links ging es in den Empfangsbereich. Zwei, drei Leute saßen drin, hielten schwere Ordner in ihren zitternden Händen. Letzte Ausfahrt: Schönhauser Tor, dachte ich. Hinter einem Ikea-Schreibtisch saß eine übel gelaunte Sekretärin, die wenig Anstalten machte, zu mir herauf zu blicken. Der Raum war voller gescheiterter Träume und ich befürchtete, dass es bei mir ähnlich sein würde. Die Sekretärin musste direkt aus einem Klub gekommen sein, so tief waren ihre Augenringe – als sie dann doch einmal zu mir aufblickte.

„Samstag arbeiten is nich so ihr Ding, wat?“ „Wer sind Sie?“ „Sagen Sie Bersen: Dembowski ist da.“ „Setzen Sie sich doch einen Moment.“

Ich setzte mich, sie verfiel wieder in einen gelangweilten Tiefschlaf. Nach ein paar Minuten, es war bereits 14.30 und ich hatte die Hoffnung auf das Spiel noch nicht aufgegeben, trat ich erneut an den Schreibtisch. „Dembowski? Sie wollten mich anmelden. Berser erwartet mich.“ „Herr Berser ist in einer Besprechung. Das dauert.“ Ich blickte mich um, sah die gescheiterten Existenz in ihren Akten blättern, ihre Blicke ein wenig zu konzentriert auf die verschmierten Papiere gerichtet. „Machen Sie mir nichts vor.“ Ich legte ihr ein Bild von Bersen und mir auf den Tisch. „Oooookay. Treten Sie ein.“

Durch eine Flügeltür trat ich in einen weiteren, diesmal fensterlosen Raum, dahinter eine weitere Flügeltür, die sich nun automatisch öffnete. Aus dem Raum schallte Enon Disco und ich fragte mich, ob er jemals etwas anderes hören würde. Er hatte wieder alles aufgebaut und saß dort und hackte in seinen Computer. Er hatte sich wenig verändert, trug jetzt aber, ganz Berliner Hipster, Bart.

Er stand auf, strich sich durch den Bart, trat auf mich zu und sagte: „Schön, dass Du gekommen bist. Lass uns die Sache im Zug vergessen.“ Hatte ich längst und es blieb nur noch wenig Zeit. „Klar. Das kann passieren. Du standest unter Druck.“ „Das kann man so sagen.“ Er trat ans Fenster, und blickte auf den Fernsehturm. „Das hier ist schon besser als immer die Fische, die an Scheiben glotzen. Was trinken?“ „Klar.“ Er reichte mir ein Kronen.

„Du wirst es vielleicht nicht wissen, aber die Bayern sind in Schwierigkeiten und der Pole wird es auch sein, wenn er das Trikot überzieht.“ „Welche Schwierigkeiten?“ „Hab schon gehört, dass Du die ganze Zeit auf Bänken sitzt und den verlorenen Minuten gegen Malaga nachhängst. Schande über Dich, Dietfried.“ Er lachte mich an und legte noch einmal Enon Disco auf. Ich saß längst auf einer Couch, trank mein Kronen und schaute auf das Computergewirr.

„Was machst Du hier eigentlich?“ „Dich suchen. Es ist dringend. Die Agentur hier kümmert sich um Dinge, vermittelt Aufträge, Gelder. Was man eben so macht in dieser IT-Stadt. Kommt aber selten einer durch. Bin schon eine Weile wieder da. Was ist eigentlich mit Dörte?“ „Die ist auf der Farm.“ „Hatte sie in Iquitos getroffen. Hat sie nichts erzählt?“ Der wunde Punkt. Seit Dörtes Rückkehr war es etwas verschwommen, etwas wortkarg geworden. Ich sollte unbedingt mal wieder dort vorbei. Wir gewinnen die Liebe und verschenken diese gegen eine miese Existenz als Loner, dachte ich.

„Was ist jetzt los? Welcher Pole. Welche Schwierigkeiten?“ Piotr schwieg und projizierte die morgendlichen Schlagzeilen an die Wand. Selbstanzeige, Hausdurchsuchung, Millionensummen. Mir war schnell klar, was das bedeutete. Ärger und zwar nicht für mich. „Wie hängt der Pole da drin?“ „Du wirst Dich erinnern, wer Dich damals in Rudcina Nida über den Jezioro Nidzkie fuhr, wer das Hotel besaß?“ „Ja!“ „Okay. Dann schau mal hier.“

Piotr reichte mir ein paar Bilder, die später im Jahr aufgenommen sein mussten. Ich sah hängende Köpfe, ich sah Sanitäter, die sich um das Knie des Polen kümmerten und ich sah eine Schlagzeile aus nicht allzu ferner Zukunft, die mir überhaupt nicht gefiel. „Hat er mir zugespielt. Mehr kann ich nicht sagen. Aber es gibt da eine direkte Verbindung und das Knie wird wieder in Ordnung kommen. Aber mehr auch nicht. Es ist nicht einmal sicher, dass er glücklich wird. Und wir Polen müssen zusammenhalten.“ Ich verstand ihn nicht.

„Was kann ich für Dich tun?“ „Du hast Verbindungen zur Agentur. Du kannst sie warnen. Und Du musst endlich wieder DerSamtag! aktivieren. Die Leute glauben Dir. Sie vertrauen Deinen Worten. Und Du kannst was ändern.“ „Du meinst, DerSamstag! kann Lewandowski halten? „Du hast das Zeug dazu.“ Er reichte mir noch ein Bier, drückte auf eine Taste und im Westfalenstadion ging das Spiel los. Reus traf und Piotr sagte: „Jetzt haben wir bis 17.20 Zeit, dann baut Robert seine Serie aus. Ich weiß solche Dinge, aber ich kann sie nicht ändern. Das kannst nur Du!“