Die Nebelschwaden zogen über den Oderbruch, ein wenig Raureif hatte sich über die Wiesen gelegt, die Kraniche waren noch da. Es war still an diesem Oktobertag. Auf meinem Spaziergang in Richtung Schiffshebewerk blieb ich unentdeckt. Am Schiffshebewerk warteten ein paar Frachter. Ich ließ mich auf einem Steg unweit der Anlage nieder, über mir kreiste ein Roter Milan, stürzte bald hinab auf die Wiesen hinter der alten Schleuse, und mit seiner Beute wieder empor.
Auf einmal saß ich wieder an der Oberweser. Ich war jünger, viel jünger. Um mich herum waren Menschen, die ich seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Auch sie waren jünger. Wir hatten Pläne, wir hatten die Welt vor uns, und wir wussten, wie sie den Sonnenuntergang machen, wie sie den Tag andrehen. Wir hatten Träumen, wir hatten die Welt vor uns. Einen zog es in den Osten, einer wurde erst Dude, dann betreute er Kinder und noch einer wurde Lehrer. Ihn hatte ich schon lange nicht mehr gesehen. Wir saßen dort. Wir tranken Bier aus Dosen, und manchmal drehte jemand die Platte um.
Auf einmal ging ich wieder durch die Straßen der Stadt, in der ich zwischenzeitlich wieder war. An einem Kreisverkehr kurz vor der Heide holte mich die Stimme ein und ich erinnerte mich, wie ich an Dörte dachte und wie mir bewusst wurde, dass ich erst den Schmerz fühlen musste, um der Wahrheit näher zu kommen. Aber der Tag kam näher. Das war mir klar. Irgendwann würde er kommen, denn er war noch nicht. Er würde noch kommen. Ich legte mich in die Heide, blickte den Flugzeugen nach und als die Sonne unterging saß ich im Biergarten. Allein. Und mit der Gewissheit: Der Tag würde kommen, mit der Zeit. Ich musste mir keine Sorgen mehr machen.
Auf einmal war ich wieder in der Zeche Carl. Ein kleiner, aufgeregter Junge. Wir saßen in der Bar, erzählten uns Geschichten über das, was passieren würde, das was sein würde. Und wir saßen einfach nur da, und warteten. Wir schauten uns das Konzert an, im Winter lag wenig Schnee. Es war still, und viel blieb nicht von dieser Zeit, in der ich nicht wusste, was sein würde, was passieren würde. Das Warten. Auf das was sein würde. Und mit uns passierte, während wir warteten, auf das was sein würde. Einer hatte sich nach Polen abgesetzt, und noch einer war in Österreich.
Auf einmal stand ich wieder in der Küche der Erdgeschosswohnung. Das Ernte-Schild an der Wand, die Kronenflaschen auf dem Boden, die Aschenbecher gefüllt von Nächten des dunklen Nebels, der sich in mir ausgebreitet hat und an mir fraß. Es würde was Neues beginnen, doch erst einmal musste ich mich ausruhen, meine Wut kanalisieren und den Kampf gegen den Nebel annehmen. Es würde etwas bleiben, was ich später noch hatte. Die Briefe aber würden nicht bleiben. Ich habe keine Briefe zerrissen, weil ich nie welche bekam.
Ich stand auf, ging den langen Weg zurück zur Farm, setzte mich auf die Veranda, nahm Dörte in den Arm und heulte.