Diese Stadt macht mich noch fertig. Sie stehen überall. Mal haben sie ein Pils in der Hand, mal reden sie mit der Luft und mal updaten sie ihre Blogs in der S-Bahn. Dann natürlich via Sprachsteuerung. “Dinge, die ich verachte” “Zur Krise der Globalisierungsbewegung!” “Occupy Now!” “Stranded at Ostkreuz” “Hateblog 2.8”. Ich kenne die Namen, ich kenne die Gesichter, ich kenne ihre Probleme. Bewege Dich ein paar Wochen in dieser Stadt und Du kennst sie. Kaum aber verlässt der Ring den alten Osten, verstummen sie.

Sie verstummen aus Angst vor den Terroranschlägen und den S-Bahn-Schlägern, die auf meiner Seite der Stadt in die Bahn einsteigen. Protest? Gerne! Aber doch nicht unter diesem Abschaum, der es wagt, ebenfalls die Bahn zu nutzen. Bier trinken? Immer! Aber doch nicht mit dem Abschaum, der es wagt, ebenfalls Bier zu trinken. Diese moralische Verlogenheit der Hornbrillenträger bringt mich um den Verstand. Wedding raus, mit der 6 zum Leo, von dort die 9 zur Osloer. In Sicherheit. Keine Hornbrillenträger mehr. Nur noch die verachtenswerten Menschen des Westens. Hier fühle ich mich wohl. Näher an der Nordstadt, näher an der der Heimat. Meine Straße zweigt direkt von dort ab, hinter einem schäbigen Domäne/Shopping-Komplex befindet sich ein Biergarten. Dort verbringe ich die wenigen Sonnenstunden zwischen Ermittlungen, Kneipen, Samenhandlung und Berliner Zimmern. Dort sitze ich mit meinen Menschen zusammen. Nichts ist verdächtig. Das Bier kommt direkt aus der Flasche, die Chinapfanne ist fettig, die Gesichter verlebt. Von Hornbrillen oder Biomärkten haben sie hier noch nichts gehört. Hier bin ich der Ermittler. Hier lassen sie mich in Ruhe.

Nach ein paar Bieren dann bewege ich mich in das Berliner Zimmer, gehe zu meiner Sammlung und ziehe ein paar Platten aus dem Regal. Manchmal spiele ich das Coverspiel und manchmal greife ich einfach noch einmal in den Stapel, bis mir die Musik zusagt. In letzter Zeit lege ich wieder vermehrt Wert auf Tony Joe White. Mein Lebensretter. Habe ich also Glück, lege ich die Black and White auf. Bei den ersten Tönen von Willie and Laura Mae Jones zünde ich mir eine Ernte an, fülle mein Glas und lasse mich auf das Bett fallen. Daheim. Immer da, wo deine Plattensammlung steht. Überall erreichbar bin ich ohnehin. Wenn ich ins Netz gehe. Wenn ich ins Netz gehen will. In die Falle tappen. Wenn ich zum Hornbrillenträger werde. Wenn ich aus meinem Kühlschrank ein paar Bioeier hole. Wenn ich mich in der Bahn vor fremden Menschen fürchte. Wenn ich überall Komaroff sehe. Wenn ich mich frage, wie das alles passieren konnte. Wenn ich Dörte suche und Hinweise finde. Wenn ich die Lokalseiten der Dortmunder Zeitungen studiere. Wenn ich mich auf die nächsten drei Spiele der Borussia freue. Wenn ich mich nicht mit der Alltagsgewalt auseinandersetze. Wenn draußen die Sirenen tönen. Wenn ich hinten in der Samenhandlung sitze. Wenn ich meine Notizen durchgehe. Wenn ich dann blau bin. Wenn ich dann am nächsten Tag zerschossen aufwache. Wenn ich lebe.